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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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aber als bäuerlich und unkultiviert galt, und blieben oft tagelang in X, der Großstadt, in der alles anders, alles aufregend war. Man diskutierte über französische Romane, hatte ersten unbeholfenen Sex, fürchtete sich vor Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft, wurde Mitglied in einem Cine-Club, um Filme von Francis Ford Coppola und Jean-Luc Godard oder Dennis Hoppers Easy Rider zu sehen, teilte alles, manchmal sogar den Freund oder die Freundin, sprach von der Gründung einer Kommune, besuchte politische Schulungen, badete nackt im Meer und schämte sich, wurde bei Routinekontrollen von Polizisten festgenommen, verprügelt und zwei Tage eingesperrt und bekam zum ersten Mal mit, dass jemand aus dem Freundeskreis »auf die andere Seite floh«, untertauchte.
    Zubieta schaffte nur mit Mühe die Hochschulreife; mittlerweile verbrachte er jede freie Minute auf Versammlungen und Schulungen. Auch wenn er wie alle im Freundeskreis damals einen bewaffneten Aufstand für die einzige Lösung hielt, stritt er sich mit den anderen über die politische Linie. Die meisten redeten von Uruguay oder den italienischen Roten Brigaden, Zubieta dagegen wollte die Massen- und Arbeiterbewegung aufbauen. Er engagierte sich in einer Bürgerinitiative gegen den Bau eines Atomkraftwerks und ließ sich immer seltener bei den Freunden blicken. Es muss 1979 oder 1980 gewesen sein, als er und Montserrat sich trennten. Sie begann Philologie zu Studieren, er versuchte es erst mit Volkswirtschaft, dann mit Theaterwissenschaft. Als ich sie später einmal über den Freund ausfragte, behauptete sie, er habe sich in jener Zeit zurückentwickelt.
    »Bis fünfzehn war er ein einsames Kind, ab zwanzig ein einsamer Mann. Nur die fünf Jahre dazwischen hat er wirklich gelebt.«
    Aber ich weiß nicht, ob das nicht eine dieser Bemerkungen war, mit denen man sich die Vergangenheit schön zu reden versucht.
     
    Kurz nach acht rollt der Bus auf die Schlucht von Pancorbo zu. Ich freue mich, endlich anzukommen. An dieser Stelle, im Norden der Halbinsel, 250 Kilometer nördlich von Madrid, verlässt man die kastilische Hochebene. Nur ein schmaler Durchstich unterbricht die schroffe Felswand, die die Meseta begrenzt. Auf drei Ebenen zwängen sich Landstraße, Autobahn und Eisenbahngleise durch den Pass. Sieht man von der Trassenführung ab, scheint die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Die Felskette, die wie eine Festungsmauer aussieht, markiert eine natürliche Grenze. Sobald man das Tor durchquert, spürt man den Einfluss des Atlantiks. Die Hänge werden grün, an das flache Land schließen Hügel und Berge an, es riecht nach Meer. Die Region um X scheint rein topografisch von Spanien getrennt.
    Der Bus hält, wir steigen aus. Ich habe die Tickets nur bis Pancorbo gelöst. Rabbee sollte die Landschaft sehen, meine Ankunft in der Region etwas Feierliches haben.
    Es gibt eine einzige Unterkunft in der Ortschaft am Pass, etwas außerhalb gelegen. Als wir in das Dorf laufen, wirft uns die Abendsonne lange Schatten vor die Füße. Die Felsen, die den Pass von Pancorbo einschließen, sind in ein orangefarbenes Licht getaucht. Ich staune über die Schönheit der Felswand, an dessen Fuß sich eine alte, dem Heiligen Santiago gewidmete Pilgerkirche erhebt.
    Wir bestellen Kaffee in einer Dorfkneipe und setzen uns auf die Bank vor dem Lokal. Das Kreischen von Schwalben. Pancorbo gehört zu den unzähligen spanischen Ortschaften, die außerhalb der Sommerferien fast unbewohnt sind. Ein Junge, der neben der Parkbank spielt, erzählt, dass er im Winter mit zwei anderen Kindern allein in der Ortschaft sei.
    »Und mit wem spielst du dann?«
    »Jeden Morgen holt uns der Bus ab und fährt uns in die Stadt.«
    Ich kritzele ein paar Notizen für meine Projektarbeit in mein Heft. EU-Beitritt, letzte Abwanderungswelle in die Städte, Immobilienspekulation, die Verwandlung der Mittelmeerküste und der stadtnahen Bergregionen in große, zusammenhängende Feriensiedlungen. In Madrid und Barcelona mehr fabrikneue PKW auf den Straßen als in den meisten deutschen Städten. Radikale Veränderung der Sozialstruktur: von der Zehnkindfamilie zum kinderfreien Raum. Nirgends verlief der europäische Anpassungsprozess so rasant und heftig wie hier: nicht unbedingt traumatisch, aber auch nicht das, was sich als sozialer Fortschritt bezeichnen ließe.
     
    Nach dem zweiten Kaffee stellen sich bei mir leichte Kopfschmerzen ein. Der Junge, mit dem wir uns unterhalten haben, wird von seinem
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