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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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um X herrscht: einem politischen Plakat, Fotos von Gefangenen, einer alternativen Tageszeitung. Aber an den Wänden der Eckkneipe hängen nur Landschaftsbilder. Der Besitzer händigt mir wortkarg die Schlüssel aus, und wenig später steigen Rabbee und ich zu der kleinen Dachwohnung hinauf, die Montserrat mit ihrem Lebensgefährten bewohnt. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt. In all den Jahren, die ich sie kenne, habe ich sie nicht ein einziges Mal nach dem Namen ihres Freundes gefragt.
    Eigentlich ist er immer auf Arbeit.
     
    In der Wohnung stinkt es. Die Katze, die uns um die Beine streicht, giert nicht nach Futter oder Wasser, sondern nach Aufmerksamkeit. Ich schenke ihr trotzdem keine Beachtung, der Urin- und Kotgeruch ekelt mich an. Nachdem Rabbee die Katzenstreu entsorgt und wir uns beide ausgiebig geduscht haben, lege ich mich auf Montserrats Bett. Die Comics stehen immer noch an der gleichen Stelle im Schlafzimmerregal, obwohl die Freundin am Telefon behauptete, sie verschwende schon seit Jahren keinen Gedanken mehr an Corto Maltes. Als sie das sagte, fragte ich mich, ob sie mir etwas mitteilen wollte – eine versteckte Nachricht, die sich gleichermaßen auf mich als auch auf Zubieta beziehen konnte. Durch das offene Fenster dringen Straßengeräusche herein. In der Mittagspause kann es in X sehr still werden, vor allem in den Vierteln etwas außerhalb, Richtung Meer. Doch ganz sterben die Geräusche nie ab, irgendetwas ist immer zu hören. Ich starre an die Decke und höre Rabbee in einem Buch blättern. Auf einmal wünsche ich mir nur noch, allein zu sein.
    Als ich Rabbee kennen lernte, mochte ich seine Leichtigkeit. Seine Fähigkeit, auf Leute zuzugehen. Aber seit wir losgefahren sind, habe ich das Gefühl, als wäre alles nur ein Missverständnis gewesen.
    Ich denke: Begleitung mindert die Intensität von Erlebnissen, man kann sich den Momenten nicht hingeben.
    Am glücklichsten war ich immer allein.
    War ich das?
     
    Rabbee räumt Kleider aus seiner Tasche. Ich erzähle ihm von der Flucht Sarrionandias aus dem Gefängnis und von der Rolle, die Zubieta, der in den Tageszeitungen als Kopf der Bande bezeichnete Mann, dabei gespielt hat. Dass ich ihn kenne, erwähne ich nicht.
    »Okay …«, Rabbee nickt. »Aber so eine Story könntest du auch über einen Islamisten erzählen, der aus Guantánamo ausbricht.«
    »Das ist nicht dasselbe«, antworte ich.
    »Sicher, dasselbe ist es nicht.« Rabbee: spitzfindig, Meister des präzisen Ausdrucks, wortgewandter Musketier der deutschen Sprache. »Aber auch sie bringen Leute um, weil diese sich in ihren Augen für die falsche Identität entschieden haben.«
    »Das stimmt nicht!« Meine Stimme überschlägt sich. »Sondern?«
    »Erstens haben sie seit drei Jahren niemanden umgebracht … Und zweitens haben sie davor Mandatsträger der beiden staatstragenden Parteien …« Ich beende den Satz nicht. Jede Feststellung muss sich wie eine Rechtfertigung anhören. Auch das ist Teil der Unsagbarkeit: Jede Bemerkung dient einem feststehenden Bedeutungssystem, man kann nicht mehr präzise sein, sondern nur noch die eine oder andere Erzählung bekräftigen.
    »Lies die Romane von Sarrionandia«, setze ich noch einmal an. »Das ist überhaupt nicht identitär oder nationalistisch … Oder denk an Zubieta. Seit zwanzig Jahren sind sie untergetaucht und trotzdem schreiben sie. Darum geht es doch: um den Zusammenhang von Sprache, Literatur, Repression, Gewalt. In Europa, im 21. Jahrhundert, dreißig Jahre nach dem Tod Francos …«
    Rabbee steckt sich umständlich eine Zigarette an und zuckt mit den Achseln. »Ist trotzdem eine Kleines-gallisches-Dorf-Geschichte, oder? Die Story einer verschworenen Gemeinschaft, die sich gegen den Strom der Zeit stemmt … findest du nicht, dass das, was wir an der Meerenge bei Tarifa gesehen haben, mehr über Spanien aussagt als diese Ethno-Geschichte?«
    Vielleicht, liegt mir auf den Lippen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hängt alles miteinander zusammen: die Hubschrauber, die an der Mittelmeerküste Jagd auf afrikanische Einwanderer machen, die mit Schwarz- und Drogengeldern angeheizte Immobilienspekulation, die von Illegalen zu Hungerlöhnen errichteten seelenlosen Feriensiedlungen und der Wunsch von ein paar Hunderttausend Menschen, nicht dazuzugehören.
    Aber ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, um verstanden zu werden.
    Später am Nachmittag: Schweißausbruch. Ich stehe auf, um zum zweiten Mal zu duschen. Die Katze
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