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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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ist fort, sie muss durch das Küchenfenster geschlüpft sein und sich auf den Dächern der Nachbarschaft herumtreiben. Auf dem Weg durch das stickige, höchstens acht Quadratmeter große Wohnzimmer stelle ich das Radio an.
    Ruper Ordorika, einer der bekanntesten Musiker der Region, singt in der marginalen, früher verbotenen Sprache.
    Ich bleibe neben dem Kühlschrank stehen, draußen schimmert die Ria.
    Ordorika, der oft Gedichte von befreundeten Schriftstellern vertont, singt: hainbeste eman zuten / lagun izen gabeak …
    Mit Sprachen ist es wie mit motorischen Abläufen. Hat man sie einmal gelernt, vergisst man sie nie ganz wieder. Obwohl ich die Sprache nie richtig beherrscht habe, die in der Region um X gesprochen wird, auch gesprochen wird, kehrt sie immer, wenn ich glaube, sie völlig vergessen zu haben, unerwartet zurück:
     
    Goazen, bada / Palmondopean / Laztan ditzagun …
    Komm, lass uns gehen / unter den Palmen / die Kaoba-Hände / streicheln / jenseits des einen / Quadratmeters Traurigkeit.
     
    Ich spüre ein Stechen im Brustkorb, Schweißtropfen rinnen mir über den Bauch.
     
    Warum verweist alles auf dieselbe Geschichte?
     
    Eigentlich könnte jeder damit gemeint sein: lagun izen gabeak, lagun erratua, herumirrender, namenloser Freund. Aber auf keinen passt es besser als auf Sarrionandia, der als junger Mann mit dem Musiker Ordorika in den siebziger Jahren eine illegale Literaturzeitung gründete und nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in den Tropen untergetaucht sein soll. Den einen beziehungsweise die sechs Quadratmeter Traurigkeit einer Zelle gegen eine Hütte unter Palmen getauscht hat.
     
    Nach dem Duschen schlage ich Rabbee vor, spazieren zu gehen. Zu meiner Erleichterung antwortet er, dass er nicht mitkommen wolle.
    Die Altstadt von X wird von den Einheimischen Die Sieben Straßen genannt, sieben Gassen am Ostufer der Ria, in denen eine Kneipe neben der anderen liegt. Ich fahre mit der U-Bahn fünf Stationen Richtung Zentrum und steige die steilen, endlosen Aluminiumröhren des Metrosystems hinauf. Als ich wieder herauskomme, ist es schon dunkel. Nur ein purpurfarbener Sonnenuntergangs streifen liegt im Westen über den Hängen.
    Es ist warm, zwischen den eng zusammenliegenden Wohnhäusern hinterlässt jeder Laden, Eingang, Gegenstand eine olfaktorische Spur: der strenge Geruch eines Fischladens, die Ammoniaknote frisch geschrubbter Treppenhäuser, die Luftschicht um eine aufgeheizte alte Steinmauer. Oberhalb der Geschäftsetagen besitzen fast alle Häuser Wintergärten, so genannte miradores, wie sie für X, aber auch für Städte in Nordportugal typisch sind. Die meisten Häuser sind saniert, haben ihren muffigen Geruch verloren, ihre proletarische Enge, und wirken doch nicht wirklich herausgeputzt. Vor den Kneipeneingängen drängeln sich Menschen, Frauen und Männer zwischen fünfzehn und fünfzig, die mit ihrer cuadrilla, dem Freundeskreis, von Lokal zu Lokal ziehen, um überall nur ein winziges Bier zu trinken, den Appetitmacher, den Aperitif, und um andere Cliquen zu treffen. Bei meinen ersten Reisen hat mich immer am meisten beeindruckt, wie man hier weggeht. Niemand ist allein unterwegs, keiner holt Getränke nur für sich selbst, sogar die Betrunkenen achten aufeinander, vor allem jedoch ist das Weggehen aufgeladen, Teil einer politischen Haltung. Bis Mitte der siebziger Jahre waren die traditionellen Feste verboten, erst Nachbarschaftsversammlungen und oppositionelle Gruppen organisierten sie neu. Seitdem unterscheiden sich die Feste in X und den Kleinstädten der Umgebung grundlegend von den anderen auf der Halbinsel. Überall sieht man Transparente, die Feststände gehören nicht Getränkekonzernen oder der Stadtverwaltung, sondern politischen Initiativen, auf dem größten Festzelt von X thront seit dreißig Jahren jeden Sommer ein riesiges Bild von Marx: Groucho Marx.
    Ich weiß nicht, warum ich das immer wieder vergesse.
    Anstatt über europäische Bürgeridentität sollte man besser über die Leerstellen Europas schreiben. Über die blinden Flecken. Über das, was ausgeblendet wird, was gar nicht erst wahrgenommen werden soll.
     
    Ich betrete eine Bar, in der Fotos über dem Tresen hängen: Erkennungszeichen: Bilder von Gefangenen aus der Nachbarschaft: Terroristen. Leute wie Zubieta. Ich setze mich an die Theke und bestelle ein Bier.
    Einige auf diesen Fotos haben Menschen umgebracht. Sie mögen dabei nicht so wahllos vorgegangen sein wie die islamischen
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