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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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auf die Wange.
    Ich hätte es wissen können, denke ich. So wie er die ganze Zeit nach Hanna gefragt hat, hätte ich es wissen können. In Zubietas Organisation gibt es alles: Häftlinge, die sich in einem Gefängnis zusammenlegen lassen, um ein Kind zu bekommen, und einmal die Woche Familien-Umschluss in der Zelle haben, Illegale, die ein unscheinbares, ganz normales Familienleben führen, Väter im Pensionsalter, die gemeinsam mit ihren erwachsenen Kindern ein Kommando bilden. Und trotzdem wundere ich mich. Für einen Augenblick wünsche ich mir, mit Zubieta und seiner Tochter auf dem Deck zu stehen und in See zu stechen.
    Es hat etwas Tröstliches, ihn so zu sehen. Weil es nicht zusammenzupassen scheint. Es ist immer tröstlich, wenn das Leben überrascht. Wenn Wünsche unvorgesehen die Richtung ändern können.
    Ohne die Hand noch einmal zu heben, wende ich mich ab und gehe durch die Altstadt zum Wagen zurück. Erst jetzt auf dem Rückweg fällt mir auf, wie viele Fenster und Geschäfte verrammelt sind. Tarifa macht einen verlassenen Eindruck. Ich starte den Motor, steuere den Renault auf die Landstraße, die etwas oberhalb der Ortschaft verläuft und fahre Richtung Algeciras zurück. An einem Aussichtspunkt, vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer entfernt, bleibe ich neben einem Café mit Terrasse stehen. Nirgends sei Afrika so nah wie hier, behauptet ein Schild. Ich hole mir einen Kaffee und setze mich auf die Mauer vor dem Wintergarten. Der Hang fällt steil ab, man sieht das Meer, große Bugwellen nach sich ziehende Containerschiffe, ein Boot der Küstenwache, das Rif-Gebirge: wie immer im Dunst.
    Die Meerenge von Gibraltar, die genauso gut Meerenge von Tarifa heißen könnte oder Estrecho de Tanger oder See von Al-Andalus, sieht harmlos aus, fast wie ein Idyll. Von den gefährlichen Strömungen zwischen Atlantik und Mittelmeer ahnt man hier oben nichts, davon dass diese Wasserstraße eine unüberwindbare Mauer darstellt, einen Todesstreifen, dem jedes Jahr Hunderte zum Opfer fallen. Von hier oben ist alles nur ein touristischer Blick, Naturschauspiel, eine Verschränkung von Bergen und Meer.
    Auf dem Wasser, das überschaubar wirkt, noch schmaler als im August, sind auch ein paar Segelboote zu sehen. Eines, das nach Süden steuert, könnte Zubietas Yacht sein. Ich suche auf dem Deck nach ihm und seinen Begleitern. Doch das Boot ist schon weit draußen auf dem Meer, vielleicht jenseits der Grenze, außerhalb des Wirkungsbereichs der Guardia Civil.
    Ich werde, so überlege ich, die Autobahn über Madrid nehmen. Noch bevor ich die Hauptstadt erreiche, werde ich in Haberkamms Büro anrufen, um zu kündigen. Die Sekretärin wird, wenn ich ein bisschen Glück habe, nicht groß nachfragen. Ich werde durchfahren und im Morgengrauen in X ankommen, überraschend entspannt. Werde einige Tage dort bleiben, um meine Sachen zu packen, Montserrats Familie einen Tag auf der Farnernte helfen und mich dann auf den Weg machen. Wenn ich eine Woche später wieder in Berlin bin, Ende Oktober, Herbstwetter, wird es leicht regnen. Ich werde froh sein, die bekannten Straßenzüge wiederzusehen, die Jugendstilfassaden, die mit Teer verschlossenen Kopfsteinpflaster. Der Nieselregen, der mir ins Gesicht fällt, wird nach Braunkohlenbriketts schmecken – nicht mehr so intensiv wie früher, aber immer noch charakteristisch für die Stadt. An einer Mülltonne werde ich stehen bleiben, meine Jackentaschen ausleeren und alles wegwerfen, was auf meine Reise verweist.
     
    Ich nippe an dem Kaffee, der gleichzeitig warm, süß und sehr sauer schmeckt, sich fast ätzend im Magen anfühlt, und blicke weiter dem Boot hinterher, bis nichts mehr zu erkennen, alles im Dunst verschwommen ist.
    Erst dann stehe ich auf.
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