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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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dieser Krankheit dahingerafft werden könnte. Verwirrt frage ich mich, was ich machen soll, was ich dann machen soll. Was stellt man mit dem Leichnam eines Illegalen an, eines flüchtigen Terroristen? Wo bringt man ihn hin? Ich fange an zu schlucken, weil ich merke, wie durcheinander ich bin, dass mir die Gedanken ganz unkontrolliert durch den Kopf zu schießen beginnen, und glaube zunächst, es sei die Verzweiflung, die Überforderung, der akkumulierte Stress der letzten Tage, aber dann wird dieses Schlucken ein Schluchzen, ein stummes Jammern, und mir laufen die Tränen aus den Augen, alles fließt und ich denke, dass das eine Art Hysterie sein muss, ein Zusammenbruch aus Erschöpfung, eine Angstattacke, weil ich seit Ewigkeiten nicht geheult habe, zumindest nicht auf diese Weise. Noch einmal frage ich mich, warum ich Zubieta nicht einfach am Vortag in einem Krankenhaus abgeliefert und das Weite gesucht habe, und noch einmal glaube ich, um mich zu trauern, aus Verzweiflung, wegen der Trostlosigkeit der Situation. Doch dann spüre ich sehr deutlich, dass es das nicht ist, sondern dass ich um den Freund trauere, um Zubieta, weil er in dieser irrsinnigen Lage ist, aus der es keinen Ausweg gibt, zumindest keinen akzeptablen, den Verhältnissen angemessenen, und dass ich Angst habe, ihn zu verlieren, weil er ein Freund ist, ein Mensch, an dem ich hänge, und die Welt leerer wäre ohne ihn, und stelle mich ans Fenster, das klein ist, kaum größer als ein DIN-A2-Blatt, und denke an unsere Fahrt in Brasilien und unser erstes Zusammentreffen auf der anderen Seite der Grenze vor zwanzig Jahren, als er gerade erst geflohen war, und lasse die Tränen laufen, während der Nebel, der die Mühle inzwischen eingehüllt hat, in den Raum eindringt, sich feucht, kühl auf die Haut legt, mich wie ein Netz umspannt, und atme tief ein und versuche diesen Moment, diese Traurigkeit genau zu erfassen, sie zu erleben, weil sie keine Funktion besitzt, unkontrollierbar ist und so gesehen der Angst entgegen gesetzt sein könnte, und frage mich, wen ich außer Zubieta alles vermisse, wer mir im Leben jemals etwas bedeutet hat und in der Zukunft etwas bedeuten wird, und heule nicht deswegen weiter, weil ich sie verloren habe oder noch verlieren werde, sondern weil ich plötzlich spüre, dass diese Einsamkeit eine Krankheit ist oder eben keine, denn sie erfüllt eine Funktion, sie sorgt dafür, dass man funktioniert, seinen Aufgaben nachkommt, und heule auch deswegen weiter, weil ich glücklich bin, dass da jemand ist, um den ich trauere, dass ich um andere trauere, ich jemanden vermisse und es nicht so ist wie in dem Film von François Ozon, wo die Einsamkeit, diese Unfähigkeit, mit Menschen zu sein, am Ende in einem lächerlichen Testament und einem verlassenen Tod mündet, und dass ich etwas tue, das ich nicht kontrolliere, sondern das einfach nur ist.
    Es dauert nicht allzu lange, dass ich so dastehe, vielleicht fünf Minuten, aber als ich mich umdrehe, um wieder nach Zubieta zu schauen, fühle ich mich ruhiger, sehr erleichtert, obwohl er immer noch keucht, und setze mich neben ihn aufs Bett, nehme seinen Kopf und streiche ihm durch die Haare. Sie fühlen sich weich und dünn an, trotz des Haarfärbemittels.
    »Mach dir keine Sorgen«, sage ich, »du kommst durch. Wir brauchen dich … ich brauche dich.«

XXII
    Als ich aufstehe, bin ich ruhig. Mir fällt ein Abend ein, den ich vor einigen Jahren mit Montserrats Bruder Antonio erlebt habe. Wir waren in einer Kleinstadt in der Nähe von X in eine Straßenschlacht geraten. Jugendliche hatten Scheiben von Bankfilialen eingeworfen, die maskierte Regionalpolizei schoss mit Tränengas und Hartgummi-Munition. Mir war schlecht an diesem Abend, wir hatten zu viel gegessen, fettig zubereiteten Fisch, und beim Laufen musste ich aufstoßen. Dass man plötzlich auch hinter uns her war, kann man als wenig überraschenden Zufall, als Zufall mit gewisser Zwangsläufigkeit bezeichnen. Auf jeden Fall landeten wir nach einiger Zeit atemlos in einem Hauseingang und drückten die Tür auf – eine leichte Aluminiumkonstruktion, ich erinnere mich genau, mit dünnem, sich bei Druck biegendem Glas. Wir hetzten, ohne das Licht anzumachen, das Treppenhaus hinauf, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, während durch die halb geöffneten Fenster Schreie von der Straße hereindrangen, Schreie von Beamten und Jugendlichen, Schlachtengetümmel. Wir versteckten uns im obersten Stockwerk des Hauses und hofften
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