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Amokspiel

Amokspiel

Titel: Amokspiel
Autoren: Sebastian Fitzek
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Prolog
    D er Anruf, der sein Leben für immer zerstörte, erreichte ihn exakt um 18.49 Uhr. Bei den nachfolgenden Befragungen wunderten sich alle, dass er die genaue Uhrzeit im Gedächtnis behalten hatte. Die Polizei, sein unfähiger Anwalt und auch die beiden Männer vom Bundesnachrichtendienst, die sich erst als Journalisten vorstellten und dann das Kokain in seinem Kofferraum versteckten. Alle fragten, weshalb er sich so gut an den Zeitpunkt erinnern konnte. An etwas so Nebensächliches, verglichen mit alldem, was danach noch passieren sollte. Die Antwort darauf war ganz einfach. Er hatte kurz nach Beginn des Telefonats auf die rhythmisch blinkende Digitaluhr seines Anrufbeantworters gestarrt. Das tat er immer, wenn er sich konzentrieren wollte. Seine Augen suchten sich einen Ruhepunkt. Einen Fleck auf der Fensterscheibe, eine Falte der Tischdecke oder den Zeiger einer Uhr. Einfach einen Anker, an dem sie sich festhalten konnten. So, als ob dadurch sein Verstand wie ein Schiff im Hafen sicher vertäut und in eine Ruheposition gebracht würde, die es ihm ermöglichte, besser zu denken. Wenn ihn früher, lange bevor das alles passiert war, seine Patienten mit komplizierten psychologischen Problemen konfrontierten, war der Fixpunkt seiner Augen stets ein zufälliges Muster in der Holzmaserung der wuchtigen Praxistür gewesen. Je nachdem, wie das Licht durch die getönten Scheiben seiner Privatpraxis in den gediegenen Behandlungsraum fiel, hatte es ihn an ein Sternbild, ein Kindergesicht oder eine frivole Aktzeichnung erinnert. Als er um 18.47 Uhr und 52 Sekunden den Telefonhörer in die Hand nahm, waren seine Gedanken weit entfernt von einer möglichen Katastrophe. Und deshalb war er in den ersten Sekunden nicht bei der Sache. Seine Blicke wanderten ruhelos durch das untere Stockwerk seines Maisonette-Appartements am Gendarmenmarkt. Alles war perfekt. Luisa, seine rumänische Haushälterin, hatte ganze Arbeit geleistet. Noch bis letzte Woche dachte er, seine Zweitwohnung in Berlins neuer Mitte wäre eine reine Geldverschwendung, die ihm ein geschickter InvestmentBanker aufgeschwatzt hatte. Heute war er froh, dass es den Maklern bisher nicht gelungen war, dieses Luxusobjekt in seinem Auftrag zu vermieten. So konnte er Leoni heute hier mit einem Vier-Gänge-Menü überraschen, das sie auf der Dachterrasse mit Blick auf das illuminierte Konzerthaus genießen würden. Und dabei würde er ihr die Frage stellen, die sie ihm bislang verboten hatte. »Hallo?«
    Er lief mit dem Hörer am Ohr in die geräumige Küche, die erst vorgestern geliefert und eingebaut worden war. So wie fast alle anderen Möbel und Einrichtungsgegenstände auch. Sein eigentlicher Wohnsitz lag in der Berliner Vorstadt, in einer kleinen Villa mit Seeblick nahe der Glienicker Brücke zwischen Potsdam und Berlin. Der Wohlstand, der ihm dieses Leben ermöglichte, beruhte auf einem spektakulären Behandlungserfolg, den er bemerkenswerterweise noch vor Beginn seines Studiums erzielt hatte. Mit einfühlsamen Gesprächen hielt er eine verzweifelte Schulfreundin vom Selbstmord ab, nachdem diese durch das Abitur gefallen war. Ihr Vater, ein Unternehmer, bedankte sich mit einem kleinen Aktienpaket seiner damals fast wertlosen Softwarefirma. Nur wenige Monate später schoss der Kurs über Nacht in schwindelerregende Höhen.
    »Hallo?«, fragte er noch einmal. Eigentlich wollte er gerade den Champagner aus dem Kühlschrank holen, doch jetzt hielt er inne und versuchte, sich ganz auf die Worte zu konzentrieren, die am anderen Ende der Leitung gesprochen wurden. Vergeblich. Die Hintergrundgeräusche waren so stark, dass er nur abgehackte Silben verstehen konnte.
    »Schatz, bist du das?«
    »... tu ...eid ...«
    »Was sagst du? Wo bist du denn?«
    Er ging mit schnellen Schritten zur Akkuladestation des Telefons zurück, die im Wohnzimmer auf einem kleinen Tisch stand, direkt vor den großen Panoramafenstern zum Schauspielhaus. »Hörst du mich jetzt besser?«
    Natürlich nicht. Mit seinem Telefon hatte er im gesamten Haus gleichmäßig guten Empfang. Er könnte damit sogar in den Fahrstuhl steigen, die sieben Stockwerke nach unten fahren und gegenüber in der Hotellobby des Hilton einen Kaffee bestellen, ohne dass dabei die Verständigung abreißen würde. Der schlechte Empfang lag unter Garantie nicht an seinem Handy, sondern an dem von Leoni.
    »… heute … nie mehr …«
    Die weiteren Worte gingen in einem Zischlautstakkato unter, ähnlich dem eines alten
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