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Der Baum des Lebens

Der Baum des Lebens

Titel: Der Baum des Lebens
Autoren: Christian Jacq
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Augenblick erwog sie, den Schleier zu lüften, um die Spitze des Pfeilers zu sehen, spürte dann aber tief im Innern, dass ihr eine derartige Entweihung verboten war.
    Sie musste sich an die Löwen wenden, diese vier Wächter mit ihren glühenden Augen.
    Sie stellte sich den Raubtieren, einem nach dem anderen. Sie öffneten ihr die Tore zu Raum und Zeit und ließen sie durch ausgedehnte Landschaften reisen – mit Kapellen, Hügeln und goldenen Weizenfeldern, mit Kanälen und verzauberten Gärten. Dann kam sie zu zwei Wegen, dem Weg des Wassers und dem Weg der Erde. An ihrem Ende war ein Feuerkreis, in dessen Mittelpunkt ein versiegelter Krug thronte.
    Die Landschaften verschwanden allmählich, und die junge Frau sah jetzt wieder das Heiligtum.
    »Jetzt hast du das Geheimnis gesehen«, sagte Sesostris. »Willst du diesen Weg weitergehen?«
    »Das möchte ich sehr gern, Majestät.«
    »Sollten dir die Götter eines Tages erlauben, den versiegelten Krug zu sehen und seinen Inhalt zu entdecken, erlebst du eine Freude, die nicht von dieser Welt ist. Vorher aber erwarten dich beunruhigende Prüfungen. Sie werden mehr von dir verlangen und grausamer sein als die deiner Vorgängerinnen, weil wir noch nie eine solche Bedrohung erlebt haben. Jetzt kannst du noch verzichten. Aber überlege dir deine Entscheidung sehr gut. Trotz deiner Jugend solltest du versuchen, dich klug zu verhalten und deine Kräfte nicht zu überschätzen. Der Weg des Wassers vernichtet das Leben, der Weg der Erde verschlingt es, der Feuerkreis ist ein unüberwindliches Hindernis. Wenn du dich auf dieses Abenteuer einlässt, wirst du die fürchterlichsten Augenblicke allein durchleben, zerfressen von Angst und Zweifeln.«
    »Ist das Glück der Menschen nicht sehr vergänglich, Majestät? Ihr habt von einer Freude gesprochen, die nicht von dieser Welt ist. Nach ihr suche ich. Wenn ich sie nicht erleben kann, bin ich selbst und allein dafür verantwortlich.«
    »Hier ist die Waffe, mit der du die Angriffe des bösen Schicksals abwehren kannst.« Sesostris reichte der jungen Priesterin ein kleines Szepter aus Elfenbein. »Er heißt heka, aus dem Licht geborener Zauber. In ihm ist das Wort geschrieben, das Energie erzeugt. In ihm allein findet sich das überwältigende Wort, das du nur mit größter Umsicht einsetzen darfst. Dieses Szepter hat einmal einem Pharao aus der ersten Dynastie gehört, dem Skorpion. Er ruht hier, nachdem er sein Schicksal an Osiris geknüpft hat. Seit Ägypten das geliebte Land der Götter ist, hat der Goldene Kreis von Abydos bewiesen, dass der Tod nicht unumkehrbar ist. Doch heute geht die Akazie zugrunde, und die Tür zum Jenseits schließt sich wieder. Wenn es uns nicht gelingt, sie offen zu halten, wird uns das Leben selbst im Stich lassen.«
    Die Priesterin legte das Szepter an ihr Herz und wusste, dass sie nicht aufgeben würde. Völlig überraschend musste sie an den jungen Schreiber denken, dessen Bild sie immer öfter im Schlaf heimsuchte. Sie schämte sich dafür, dass dies auch in einem so feierlichen Augenblick geschah. War das vielleicht ein Hinweis auf eine Schwäche, der ihr zeigen sollte, wie gefährlich dieser Weg für sie war?
    Doch ihre Unzulänglichkeiten und ihre inneren Feinde spielten keine große Rolle, viel wichtiger war es, sie zu erkennen und unverzüglich zu bekämpfen. Und was sie für Iker empfand, schien sie seltsamerweise nicht zu schwächen oder von ihrem Ziel abzulenken. Lehrten die Weisen denn nicht, dass menschliche Leidenschaft immer in Umherirren und Verzweiflung endet, fern von himmlischer Freude?
    Die Priesterin war innerlich viel zu aufgewühlt, als dass sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. Sie hielt ihr Szepter wie ein Steuerruder umklammert und verließ zusammen mit dem Pharao die Kapelle.
    »Ich feiere jetzt den Sonnenaufgang und biete Maat Maat an«, sagte der Pharao. »Möge ihr Gerechtigkeitssinn dein Leitstern sein.«
    Und dann erlebte die junge Frau allein vor dem Osiris-Tempel die Geburt der neuen Sonne. Wieder einmal hatte der Pharao die Finsternis besiegt.
    Sollte die Akazie sterben, wäre das Tagesgestirn nur mehr eine sengende Scheibe, die die gesamte Natur verbrennen würde.
    Inzwischen genoss sie das Ende dieser Nacht, in der sich ihr Leben entscheidend geändert hatte, und labte sich an dem hoffnungsvollen Schimmer der Morgendämmerung.
    Bald würde sie mit dem Kahlen wieder Wasser und Milch auf den Stamm des Lebensbaumes gießen, während die Sonne den heiligen
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