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Der Baum des Lebens

Der Baum des Lebens

Titel: Der Baum des Lebens
Autoren: Christian Jacq
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1
     
     
     
    Vorsichtig schlug Iker die Augen auf. Er konnte sich nicht rühren. Mit Händen und Füßen war er an den Hauptmast eines großen Segelschiffs gefesselt, das in voller Fahrt über ruhige See glitt.
    Die Küste, an der er nach einem langen Arbeitstag spazieren gegangen war, die fünf Männer, die plötzlich über ihn hergefallen waren und ihn mit Stöcken geschlagen hatten, dann die plötzliche Leere… Der ganze Körper tat ihm weh, sein Kopf dröhnte vor Schmerzen.
    »Bindet mich los!«, flehte er.
    Ein beleibter, bärtiger Mann kam auf ihn zu. »Du bist doch nicht etwa unzufrieden mit deinem Schicksal, mein Junge?«
    »Warum habt ihr mich entführt?«, wollte Iker wissen.
    »Weil wir dich vielleicht bald brauchen. Schönes Schiff, hab ich Recht? Es heißt Gefährte des Windes, ist hundertzwanzig Ellen lang und vierzig breit. So eins musste ich haben, um meinen Auftrag auszuführen.«
    »Welchen Auftrag denn?«
    »Du bist ja nicht gerade wenig neugierig! Egal, bei dem, was dich erwartet, kann ich dir ruhig sagen, dass wir ins Land Punt segeln.«
    »Das göttliche Land? Das gibt es doch gar nicht, das ist doch nur eine Fantasiegeschichte für Kinder!«
    Der Kapitän grinste. »Meinst du etwa, hundertzwanzig Seeleute, die mutiger und entschlossener sind als Löwen, sind losgefahren, um ein Fantasieland zu erobern? Meine Mannschaft besteht nicht aus Träumern, sondern aus grimmigen Gesellen, die bei dem Unternehmen reich werden wollen, sehr reich.«
    »Reichtum interessiert mich nicht! Ich will Schreiber werden.«
    »Das kannst du vergessen, Schluss mit Palette, Pinsel und Papyrus. Schau, das Meer ist eine Gottheit, die genauso gefährlich und unbezwingbar ist wie Seth. Wenn der nächste Sturm über uns hereinbricht, weiß ich schon, wie ich das Meer besänftigen kann. Wir brauchen nur eine schöne Opfergabe, damit wir Punt erreichen. Deshalb werfen wir dich lebendig in die Fluten. Wenn du ertrinkst, beschützt du uns.«
    »Aber warum… warum denn ich?«
    Der Kapitän legte den Zeigefinger auf die Lippen.
    »Das ist ein großes Geheimnis des Reiches«, flüsterte er. »Ich darf es dir nicht verraten, obwohl du ja nicht mehr lange zu leben hast.«
    Der Kapitän ging weg, und Iker musste sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Mit fünfzehn sterben zu müssen und ohne zu wissen, warum – wenn das nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit war? Wütend versuchte er, sich aus seinen Fesseln zu befreien, aber vergeblich.
    »Das hat keinen Sinn, Junge, die Knoten hat ein Fachmann gemacht«, bemerkte ein grobschlächtiger, etwa vierzig Jahre alter Mann, der Zwiebeln kaute. »Ich war es nämlich, der dich gefesselt hat, und was Schildkröten-Auge macht, das macht er richtig.«
    »Mach dich doch nicht zum Verbrecher! Sonst strafen dich die Götter.«
    »Wenn man dir zuhört, vergeht einem glatt der Appetit.«
    Schildkröten-Auge verschwand ans Heck.
    Iker war ein Waisenkind und äußerst wissbegierig. Ein alter Schreiber hatte ihn in sein Herz geschlossen und erzogen. Mit Beharrlichkeit und Fleiß wäre es ihm sicher gelungen, Arbeit in einer Tempelverwaltung zu finden und dort viele glückliche Stunden zu verbringen.
    Aber das zählte alles nicht mehr – jetzt hatte er nur noch diese unendliche Wasserfläche vor sich, die ihn bald verschlingen würde.
    Ein junger Seemann ging mit einem Ruder über der Schulter an dem Gefangenen vorbei.
    »He, du, hilf mir bitte!«, rief Iker.
    Der Mann blieb stehen. »Was willst du?«, fragte er.
    »Mach mich los, ich flehe dich an!«
    »Und wo willst du dann hin, du Schwachkopf? Es wäre ziemlich dumm, wenn du vorzeitig ertrinkst. Du sollst sterben, wenn’s nötig ist, dann kannst du dich wenigstens etwas nützlich machen. Und jetzt lass uns verdammt noch mal in Ruhe! Sonst schneide ich dir die Zunge ab. Und was Messerklinge sagt, macht er auch.«
    Iker rührte sich nicht mehr. Sein Schicksal war besiegelt. Aber warum ausgerechnet er? Ehe er von dieser Erde verschwand, wollte er wenigstens eine Antwort auf diese Frage. Ein großes Geheimnis… Wie sollte denn er, ein armer Schreiberlehrling, den mächtigen Pharao Sesostris bedrohen können, den Dritten dieses Namens, der mit starker Faust über Ägypten herrschte? Wahrscheinlich hatte sich der Kapitän nur über ihn lustig machen wollen. Und seine Piratenbande hatte sich den Erstbesten geschnappt, den sie erwischen konnten.
    Schildkröten-Auge gab ihm einen Schluck Wasser zu trinken.
    »Essen tust du besser
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