Der Bastard
Hei n rich endlich aufblickte.
«Er wird es ohne dich nicht schaffen. Du brauchst nicht zu glauben, ich gäbe mich irgendwelchen Illusionen hin, nur weil er mein Sohn ist. Die Wahl seiner E hefrau war das Beste, was er in seinem Leben getan hat. Ich weiß, dass er nur ein durchschnittlicher Chirurg ist. Er ist kein Visionär, und ihm fehlt das Charisma. Seine Stärken liegen im Menschl i chen. Er wäre vermutlich ein guter Landarzt geworden. Aber seine Aufgabe liegt nu n e inmal hier. Was die Leitung der Klinik angeht, wird er versagen, wenn er keine loyale Unterstützung von dir b e kommt.»
Jonathan Kingsley blickte zu Boden. Er hatte gewusst, dass es so kommen würde. Irgendwo in seinem Inneren war vielleicht die leise Hoffnung gewesen, der alte Arzt könnte sich von sich aus anders entscheiden. Reines Wunschdenken.
«Es ist mein letzter Wunsch, meine letzte Bitte an dich. Ich weiß, dass du wenig von Maximilian als Arzt hältst, auch wenn ihr schon so lange Freunde seid. Ich bitte dich um meinetwillen. Die Klinik soll zumindest noch diese eine Generation als Familienbetrieb erfolgreich sein. Was danach kommt, liegt außerhalb meiner Macht. Bitte versprich mir, dass du nach meinem Tod für Maximilian da sein wirst. Was die finanzielle R e gelung angeht, weißt du, dass ich noch nie kleinlich war. Du wirst deinen Anteil b e kommen und noch mehr.»
Kingsley wusste, dass er nicht ablehnen konnte. Oft hatte er sich überlegt, die Klinik zu verlassen und dadurch Sibelius zu dem Schritt zu bewegen, den er sich erhoffte. Aber er war nicht gegangen und würde es auch jetzt nicht tun. Nicht so kurz vor dem Ziel.
«Vielleicht will Max das gar nicht.»
Heinrich winkte ab.
«Maximilian hat viele Fehler, aber er ist nicht dumm. Und er ist nicht blind seinen eigenen Unzulänglichkeiten gegenüber. Es würde mich nicht wu n dern, wenn er die Klinik faktisch in deine Hände legt und sich selbst ein schönes Leben macht, was immer er darunter versteht. Manchmal glaube ich, er würde am liebsten zurück nac h A frika und dort wieder praktizi e ren. Das kann ich sogar verstehen.»
Heinrich Sibelius straffte die Schultern.
«Jonathan, die Leitung der Klinik hat eine formale und eine praktische Seite. Nach meinem Tod wirst du allein hier weitermachen müssen. Das wissen wir beide. Und du kannst das auch. Maximilian muss selbst entscheiden, wie sehr er sich praktisch einbringen will. Du wirst ihn natürlich bei allen größeren Entscheidungen mit einbeziehen müssen. Aber a n sonsten hast du mit Sicherheit freie Hand.»
«Natürlich.» Dasselbe hatte er vor einigen Min u ten gesagt. Dabei kam es ihm alles andere als natürlich vor.
«Ich werde dir gern das Versprechen geben, wenn du mir noch eine Bitte erfüllst.»
Sibelius hob fragend die Augenbrauen.
«Sicher. Was kann ich für dich tun? Aber wenn es um Geld geht, so habe ich dir schon …»
Kingsleys «Nein» kam so laut und entschieden, dass beide sich kurz erschrocken ansahen.
«Nein», fuhr er fort, «es geht nicht um Geld. Ich will, dass wir am Wochenende noch einmal gemeinsam essen gehen. Vielleicht im Stachel.»
«Aber ja, gern doch!» Heinrich Sibelius war offensichtlich erleichtert und entzückt. «Clara wird sich auch freuen, wieder einmal einen Abend mit dir zu verbringen.»
Kingsley schüttelte den Kopf.
«Entschuldige, aber ich dachte, nur wir beide.»
Sibelius zuckte mit den Schultern.
«Fein, ein Herrenabend also. Dann kann Clara sich einer ihrer Wohltätigkeitsstiftungen widmen. Sie jammert mir ohnehin dauernd die Ohren voll, mit wem alles sie sich endlich wieder einmal verabreden müsste.»
Sie einigten sich auf Sonntagabend und verabschiedeten sich. Kurz bevor Kingsley den Raum ve r ließ, hielt Sibelius ihn noch einmal auf.
«Ich weiß, dass ich es eigentlich nicht erwähnen muss, aber bitte behalte unser Gespräch für dich. Es wäre nicht gut, wenn die Gesellschafter davon erfahren, bevor wir nicht einen handfesten Plan für die Nachfolge präsentieren können.»
Kingsley versicherte sein Stillschweigen und schloss die Tür hinter sich. Sibelius würde sterben, sehr bald. Das änderte die Dinge. Am Sonntag würde er seine Trumpfkarte ausspielen und den sehnlich s ten Wunsch des alten Mannes erfüllen.
8
« Guten Morgen, Frau Kollegin.»
Dr. Spindlers Stimme unterstrich die Atmosphäre des Sprechzimmers und der ganzen Praxis, ruhig, kompetent und vertrauenerweckend. Sie erkundigte sich nach Pias Befinden, und nach einigen Sätzen über
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