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Der Bär

Der Bär

Titel: Der Bär
Autoren: Jacques Berndorf
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schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Klären Sie mich auf.«
    »Wir haben um 1890 generell im Gebiet Gerolstein hundertsiebenundvierzig Auswanderer. Gemeint sind in der Regel ganze Familien, also liegt die wirkliche Zahl etwa sechs- bis siebenmal so hoch. Die Familien hatten nicht selten zehn Kinder und mehr. Das Land war arm, die Landwirtschaft legte sich selbst durch ein unsinniges Erbrecht lahm, die Böden gaben nicht viel her. In der Regel wird immer gesagt: Die Eifel war bitterarm, also wanderten die Leute aus. Aber so einfach war das nicht. Es gab ungezählte Familien, die dem preußischen Staat ganz einfach Steuern schuldeten. Sie konnten nur auswandern, wenn sie den Regierungsstellen zusammen mit einem Antrag auf Auswanderung das Geld vorweisen konnten, mit dem sie die Überfahrt bezahlen wollten.« Sie machte eine gekonnte Pause, sie setzte ein Zeichen. »Auch wenn es hier um eine historische Doktorarbeit geht, muss ich den Mut zu viel Fantasie aufbringen. Der August des Jahres 1888 war ein heißer Monat. Die Klimaaufzeichnungen sind zwar nicht komplett, aber komplett genug, um das sagen zu können. Der Mann, das spätere Opfer, macht sich von Gerolstein aus auf den Weg nach Daun. An der Einmündung des Weges nach Rockeskyll macht der Mann halt. Wahrscheinlich zündet er sich ein Feuer an, wahrscheinlich isst er irgendetwas. Die Nacht bricht herein. Nach den Unterlagen des Katasteramtes Gerolstein lag das Haus des Landwirtes Schmitz leicht erhöht auf dem Hang nach Rockeskyll in ungefähr dreihundert Metern Entfernung. Das heißt: Der Landwirt Schmitz konnte von seinem Haus aus das Feuer sehen, das das spätere Opfer entfacht hatte.« Sie machte wieder eine Pause, sie schürzte die Lippen, sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sie scheuchte mit einer schnellen Handbewegung eine Fliege weg.
    »Wir kommen jetzt also zu diesem Landwirt Schmitz, mit Vornamen Berthold. Sein Los war unbeschreiblich ärmlich, aber das war zu den damaligen Zeiten in der Eifel leider normal. Zusammen mit seiner Frau, die Susanna hieß, hatte er acht Kinder.
    Dazu kam noch ein Onkel, der im gleichen Haus lebte, ein gewisser Sebastian Tombers. Sie waren also elf Leute in dem Haus. Sie hatten viel zu wenig Land, um diese elf Menschen zu ernähren. Das hatte zu einer sozialen Verelendung geführt. Berthold Schmitz war vorbestraft. Und zwar wegen Waldfrevel. Auf gut deutsch hat er also Holz gestohlen, um es im Winter etwas warm zu haben. Er hatte von einem privaten Geldvermittler ein Darlehen aufgenommen. Mit diesem Geld hat er den Nachweis erbracht, dass er die Überfahrt nach Amerika bezahlen konnte und ... «
    »Augenblick mal«, unterbrach ich scharf. »Woher, zum Teufel, wissen Sie von diesem privaten Kredit?«
    »Aus einem Kirchenbuch von Michelbach. Dort hat nämlich der Pfarrer die privaten Kredite dieses Geldvermittlers untersucht und zur Anzeige gebracht. Dabei wurde ausdrücklich erwähnt, dass Berthold Schmitz aus Rockeskyll einen Kredit bekommen hatte.«
    »Sehr gut, weiter.«
    »Die Familie Schmitz war so heruntergekommen, dass sie nur drei Acker zu bearbeiten hatte, da war kein Hoffnungsschimmer in Sicht. Die Äcker hatten sie zwar verkauft, aber der Ertrag war geradezu lächerlich. Nehmen wir einmal die einfachste Sichtweise an, versetzen wir uns in diese Nacht. Berthold Schmitz sieht das Feuer dieses Händlers. Er geht dorthin, er sieht den Karren und hat nur eine Idee: Dieser Mann muss Geld bei sich haben.« Sie seufzte. »So ist es dann passiert.«
    »Wie ist es dann passiert?«, fragte ich. Ingbert hatte recht, sie war zu schnell, zu leichtfertig. »Sie müssen doch eine Vorstellung davon haben, was sich zwischen den beiden Männern zutrug.«
    »Muss ich nicht«, antwortete sie schroff. »Mir reicht, dass der unbekannte Händler mit zertrümmertem Schädel zurückblieb.«
    Eine Weile herrschte Schweigen, Ingbert breitete leicht die Arme aus, als wolle er Tessa korrigieren. Aber er sagte nichts.
    »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Bauerngehöfte an diesem Weg lagen?«
    Tessa nickte. »Wir haben eine alte Karte ausgegraben. Der Händler kam von Gerolstein. Nehmen wir das einmal an. An diesem zurückgelegten Weg lag zweitausend Meter entfernt ein Gehöft. Die Leute konnten das Feuer des Händlers nicht sehen. Und auch das Gehöft des Berthold Schmitz war für sie nicht sichtbar. In Richtung Daun lag dann noch in etwa eintausend Metern Entfernung das Haus eines Schuhmachers. Auch der konnte wegen
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