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Der Bär

Der Bär

Titel: Der Bär
Autoren: Jacques Berndorf
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waren. Sie dienten als Boten zwischen den Gemeinden, sie brachten manchmal Briefe von Haus zu Haus, sie waren sehr verlässlich, und sie konnten viele Geschichten aus anderen Städten und Gemeinden erzählen. Sie waren so etwas wie die fehlende Tageszeitung.«
    »Und verfügten diese herumziehenden Zigeuner über Bargeld?«, fragte Rodenstock. »Selten«, sagte Ingbert sehr sicher. »Und wenn sie welches hatten, zeigten sie es nicht, sondern versteckten es irgendwo. Und es waren in der Regel nie mehr als ein paar meist wertlose Münzen.«
    »Somit fiele also auch dieser Landwirt namens Schmitz als Raubmörder aus«, sagte ich.
    »Nicht unbedingt, aber sehr wahrscheinlich«, nickte Ingbert.
    »Wie ist denn dieser Mann mit dem Karren überhaupt getötet worden?«, fragte Rodenstock.
    »Er hatte einen zertrümmerten Schädel«, sagte Ingbert. »Aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Das Entscheidende ist für mich, dass dieses Tatortprotokoll nicht den geringsten Hinweis auf eine Besonderheit enthält und schon gar keinen Hinweis auf einen Verdächtigen.« Er lächelte versonnen. »Das ist schon merkwürdig: Da wird nachts zwischen Gerolstein und Daun ein Mann erschlagen. Das wird zur Kenntnis genommen, protokolliert, aber nicht sonderlich merkwürdig gefunden. Die zwei Gendarmen stammten aus Gerolstein, waren Gerolsteiner Jungens. Der Arzt war der Medizinalrat Dr. Xaver Manstein, ein höchst geachteter Gerolsteiner, damals etwa vierzig Jahre alt. Der Richter war Severus Brandscheid, ein gebürtiger Trierer und gleichzeitig ein großer Hobbygeologe, der Fossilien und Steine sammelte und diese Funde in seinem Amtsgericht in Glasvitrinen zeigte. Also höchst ehrbare Leute.
    Und die lassen ein Protokoll schreiben, in dem nur steht, dass ein Namenloser von einem Unbekannten so heftig auf den Kopf geschlagen wurde, dass er augenblicklich verstarb. Das ist alles, das ist absolut alles. Der Fall wird an keiner Stelle, in keinem Amt, auch nicht in der Kreisstadt Daun in den folgenden Jahren wieder erwähnt. Auch im Preußischen Zentralregister findet dieser Mord nicht statt, schon gar keine Verfolgung von Tätern. Das Merkwürdigste ist vielleicht, dass dieser Ermordete nirgendwo vermisst wird. Es gibt nirgendwo eine Vermisstenanzeige. Es ist so, als sei der Mann vom Himmel gefallen. Es ist so, als habe diese Tat nicht stattgefunden. Und das ist für das damalige Preußen ein schieres Wunder, für Gerolstein ein vollkommen unglaublicher Vorgang.« Er sah zu seiner Tessa hin, die beleidigt wirkte und ihn keines Blickes würdigte. »Mein Spezialgebiet sind nämlich die preußischen Rheinlande der damaligen Zeit.« Dann sank er in sich zusammen, er hatte seinen Senf dazugegeben, sein Senf wirkte entschieden überzeugender als der Senf seiner Verlobten.
    »Wenn ich Sie richtig interpretiere, dann vermuten Sie so etwas wie einen vertuschten Skandal.« Rodenstock sprach ganz leise.
    »Richtig«, nickte Ingbert. »Da muss irgendein großes Ding versteckt worden sein. Irgendetwas Bedeutsames. Ehrlich gestanden vermute ich die Einmischung äußerst honoriger Leute, wahrscheinlich waren lokale Politiker verstrickt, möglicherweise Bürgermeister.« Er wuchs wieder zu seiner beachtlichen Länge empor, als habe ihn jemand aufgeblasen. »Um klarzumachen, wie der Unterschied zwischen mir und meiner Verlobten aussieht, möchte ich definieren: Tessa macht es sich zu leicht, einfach den nächstgelegenen Bauern zum Täter zu machen. Das habe ich ihr wiederholt gesagt, das ist unwissenschaftlich.«
    »Hah!«, sagte Tessa und starrte in den blauen Eifelhimmel.
    »Wir Frauen haben es immer ein bisschen schwerer«, murmelte Emma. »Aber wie Baumeister andeutete, wollen Sie beide heiraten.«
    »Das ist richtig«, nickte Tessa. »Das wollen wir. Deshalb sind wir eigentlich hier. Ingbert sollte meine Eltern kennenlernen.«
    Ingbert sagte nichts dazu, zeigte ein steinernes Gesicht, und ich dachte bei mir: Tessa-Mädchen, da musst du aber schwer aufpassen, dass Ingbertchen dir nicht von der Schippe springt.
    »Wie auch immer«, versuchte Emma die Szene aufzuheitern, »wir sollten vielleicht noch eine Kanne Kaffee machen.«
    »Moment, Moment«, murmelte Rodenstock. »Ich hätte gern von Tessa gewusst, wieso sie eigentlich auf den Landwirt Schmitz gekommen ist. Sie muss doch einen Grund haben.«
    »Habe ich«, sagte sie erfreut. »Kennen Sie die damaligen Auswanderungswellen?«
    Ich wusste genau, dass Rodenstock darüber gelesen hatte, aber er
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