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Der Atem der Apokalypse (German Edition)

Der Atem der Apokalypse (German Edition)

Titel: Der Atem der Apokalypse (German Edition)
Autoren: Sarah Pinborough
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den Jungen Luke mitgenommen hatte, riefen die Krankenschwestern an, alles sei so weit, dass der alte Mann wieder in sein Zimmer im obersten Stock des Senate House gebracht werden könne. Mr Bright folgte dem diskreten privaten Krankentransport mit seinem eigenen Auto. Der Morgen dämmerte. Es war Heiligabend.
    Der Boden war zu hartem Grau gefroren, das farblich zu den Gebäuden und dem Himmel passte. Ein Straßenreiniger, der Schal und Mütze gegen die Kälte tief ins Gesicht gezogen hatte, schlurfte langsam vorbei und räumte den Dreck von den Gullys.
    Trotz der frühen Stunde brannten gelbe Lichter in den Büroräumen und in den Ecken leuchteten Lichterketten. Mr Bright wusste nicht, ob es nur seine innere Ruhe war, doch er fand London an diesem Morgen stiller und friedlicher. Zwei einander fremde Passanten lächelten sich im Vorbeigehen an. So schön hatte diese seine, nein
ihre
Welt noch nie ausgesehen. Es hatte einige Opfer gegeben – er verdrängte seinen Schmerz, dem er sich an einem anderen Tag hingeben würde – und er würde dafür sorgen, dass sie nicht umsonst waren. Er hielt an und trat in die eiskalte Luft. Sie fühlte sich frisch und belebend an. Mr Bright lächelte und steckte sich eine dünne Zigarre an. Er hatte noch ein wenig Zeit.
    Damals, als der Erste geschlafen hatte, hatte Mr Bright oft an seinem Bett gesessen und wie mit einem Beichtvater mit ihm gesprochen. Umgeben von leise summenden Geräten und freundlichen Krankenschwestern hatte er dort eine Art Frieden gefunden. Das war jetzt anders, schon allein, weil der Erste nicht mehr schlief. Mr Bright sah, wie die wässrigen Augen in dem faltigen Gesicht aufblitzten, als er sich vorbeugte und ihm eine weiße Strähne hinters Ohr strich.
    »Du hasst mich, ich weiß«, sagte er. »Das kann ich verstehen.« Er tunkte den kleinen Schwamm auf dem Nachttisch in die Wasserschale und drückte ihm einige Tropfen auf die gesprungenen Lippen. »Aber ich werde für dich sorgen, so wie immer, alter Freund, solange es eben dauert.« Er lächelte zärtlich in der Erinnerung an ihre ruhmreiche Vergangenheit. Der Erste sah ihn wütend an, aber er schwieg. Jetzt war es ohnehin anders, denn er hatte kein
Leuchten
mehr.
    Als Mr Bright näher hinsah, erwog er, ob der Erste vielleicht schon in den Wahnsinn hinüberglitt. Er legte den Schwamm wieder neben die Schale. Unter den Umständen wäre es möglicherweise nicht das Schlechteste, wenn er den Verstand verlöre. Mr Bright hatte so ein Gefühl, als wäre der junge Luke nach der Verwandlung mit mehr als seinem eigenen Vorrat an
Leuchten
aufgewacht. Das würde sich mit der Zeit zeigen, doch er war sicher, dass der Erste ihm unfreiwillig eine Menge abgegeben hatte.
    »Versuch jetzt zu schlafen«, sagte er und ging zur Tür. »Ich besuche dich bald wieder, versprochen.«
    Es dauerte nur eine Stunde, das Experiment abzubauen und die verschiedenen Bestandteile zu vernichten. Mr Bright trank einen starken Kaffee und hörte sich die Nachrichten an, während er in dem gleichen Büro, in das ihn Mr Dublin neulich zitiert hatte, auf die Ärzte wartete.
    Nachdem sie ihm die Spritzen ausgehändigt hatten, bedankte er sich höflich und entließ sie dann. Den Rest musste er selbst tun. Schweren Herzens ging er durch den langen Flur zu den Räumen, wo Mr Rasnic, Mr Bellew und all die anderen, die sich auf die Suche nach den Gängen gemacht hatten, zusammengesunken in ihren Gummizellen litten. Er ging von einem zum anderen, kauerte sich neben sie und redete beruhigend auf sie ein, während er ihnen die Spritze tief in die Adern jagte. Mit der giftigen Flüssigkeit hätte man auf der Stelle hundert Männer umbringen können, und doch gaben sie nicht kampflos auf. Mr Bellew brauchte eine Viertelstunde, in der Mr Bright bei ihm saß und seine kalte Hand hielt, um ihm Trost zu spenden. Vielleicht – hoffentlich! – würde das Schreien im Chaos nun aufhören.
    Als er fertig war, ging er auf die Dachterrasse und blickte auf die Stadt hinaus, die er so sehr liebte. Die Zeiten hatten sich geändert, und sie mussten bestimmte Dinge einfach akzeptieren, statt weiterhin dagegen anzukämpfen. Möglicherweise war das Sterben auch nur ein Anzeichen davon, dass sie nun endgültig hier zu Hause waren: sie und
sie, die Kinder derer, die mit ihnen gekommen waren
, waren alle eins. Sie mussten einsehen, dass der Tod am Schluss zu ihnen allen kam. Als seine Nase in der Kälte gefühllos wurde, kehrte er lächelnd zum Auto zurück. Auch wenn sie
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