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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag
Autoren: Stephen King
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fand ich nicht in der Kolumne »Lokales aus Jodie«, sondern auf der Titelseite der neuesten Ausgabe.
    JODIE WÄHLT »BÜRGERIN DES JAHRHUNDERTS« FÜR HUNDERTJAHRFEIER IM JULI lautete die Schlagzeile. Und das Foto unter der Schlagzeile … sie war jetzt siebenundsiebzig, aber manche Gesichter vergisst man nicht. Vielleicht hatte der Fotograf ihr vorgeschlagen, den Kopf so zur Seite zu drehen, dass die linke Wange nicht zu sehen sein würde, aber Sadie hatte frontal ins Objektiv geblickt. Und warum auch nicht? Die Narbe war jetzt alt, die Wunde von einem Mann verursacht, der seit vielen Jahren im Grab lag. Ich fand, dass sie ihrem Gesicht Charakter verlieh, aber ich war natürlich voreingenommen. Wenn man liebt, sind Pockennarben so hübsch wie Grübchen.
    Ende Juni, als die Schule aus war, packte ich einen Koffer und brach erneut nach Texas auf.
    7
    Die Dämmerung eines Sommerabends in der Kleinstadt Jodie, Texas. Sie ist etwas größer, als sie 1963 war, aber nicht sehr viel größer. In dem Stadtteil, in dem Sadie Dunhill in der Bee Tree Lane gewohnt hat, steht jetzt eine Kartonagenfabrik. Den Herrenfriseur gibt es nicht mehr, und die Tankstelle von Cities Service, bei der ich mit meinem Sunliner Kunde war, ist heute ein 7-Eleven. Und wo Al Stevens früher Prongburger und Mesquite-Fritten verkauft hat, steht jetzt ein Subway.
    Die Reden zur Hundertjahrfeier von Jodie sind gehalten. Die der Frau, die von der Historischen Gesellschaft und dem Stadtrat zur Bürgerin des Jahrhunderts gewählt worden war, war bezaubernd kurz, die des Bürgermeisters langatmig, aber informativ. Ich erfuhr, dass Sadie eine Amtsperiode lang selbst Bürgermeisterin gewesen war und vier Legislaturperioden lang im texanischen Abgeordnetenhaus gesessen hatte, aber das war längst nicht alles. Dazu kamen ihre Arbeit für wohltätige Zwecke, ihre steten Bemühungen, das Ausbildungsniveau an der DCHS zu heben, und ihr einjähriger unbezahlter Urlaub, um nach dem Wirbelsturm Katrina als Freiwillige beim Wiederaufbau von New Orleans zu helfen. Und das Förderprogramm der texanischen Staatsbibliothek für blinde Schüler, eine Initiative für bessere Heilfürsorge für Kriegsveteranen und ihre unermüdlichen (und selbst im hohen Alter fortgesetzten) Bemühungen um eine bessere staatliche Versorgung mittelloser psychisch Kranker. Im Jahr 1996 war ihr angeboten worden, fürs Repräsentantenhaus in Washington zu kandidieren, aber sie hatte mit der Begründung abgelehnt, sie habe an der Basis mehr als genug zu tun.
    Sie hat nie wieder geheiratet. Sie hat Jodie nie verlassen. Sie ist weiter groß, ihr Körper nicht von Osteoporose gebeugt. Und sie ist weiter schön mit ihren langen, weißen Haaren, die bis fast zur Taille hinab über ihren Rücken fließen.
    Jetzt sind die Reden gehalten, und die Main Street ist abgesperrt worden. An beiden Enden des zwei Blocks langen Geschäftsviertels verkünden über die Straße gespannte Werbebanner:
    STRASSENFEST MIT TANZ , 19–24 Uhr! KOMMT ALLE!
    Sadie ist von Gratulanten umringt – von denen ich einige noch zu kennen glaube –, also schlendere ich zum DJ -Podium hinüber, das vor der ehemaligen Filiale von Western Auto, jetzt ein Walgreens, aufgebaut ist. Der Kerl, der dort in Platten und CD s wühlt, ist etwas über sechzig und hat schütteres Haar und einen beträchtlichen Wanst, aber diese Brille mit rosa Gestell und dicken Gläsern hätte ich überall erkannt.
    »Hallo, Donald«, sage ich. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre runden Soundbomben noch.«
    Donald Bellingham sieht auf und lächelt. »Die bringe ich zu jedem Gig mit. Kenne ich Sie?«
    »Nein«, sage ich. »Meine Mutter, sie war damals Anfang der Sechzigerjahre bei einem Schultanz, bei dem Sie aufgelegt haben. Sie hat erzählt, wie Sie heimlich die Big-Band-Platten Ihres Vaters mitgebracht haben.«
    Er grinst. »Yeah, das hat mächtig Zoff gegeben. Wer war Ihre Mutter?«
    »Andrea Robertson«, sage ich aufs Geratewohl. Andrea war meine beste Schülerin im Leistungskurs Amerikanische Literatur.
    »Klar, ich erinnere mich an sie.« Sein vages Lächeln beweist, dass er es nicht tut.
    »Von diesen alten Platten haben Sie wohl keine mehr?«
    »Gott, nein. Aber ich habe alle möglichen Big-Band-Aufnahmen auf CD . Spüre ich da einen Musikwunsch nahen?«
    »Das tun Sie tatsächlich. Aber er ist ein bisschen speziell.«
    Er lacht. »Sind sie das nicht alle?«
    Ich sage ihm, was ich möchte, und Donald – genauso eifrig zu Gefallen wie früher – ist
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