Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
Vom Netzwerk:
verzichtete ohnehin auf Alkohol, rauchte nicht und trug somit das Meinige zum Erfolg der Behandlung bei. Wir waren in gelöster, ja beinahe euphorischer Stimmung und machten Pläne für unsere Rückkehr nach Garrapata Beach.
    Plötzlich hielt Anouk mitten in einer Bewegung inne und starrte hinter mich. Verwundert folgte ich ihrem Blick, doch von meiner Perspektive aus sah ich nichts, was Anlass für ihre schlagartige Veränderung hätte geben können.
    Ich drehte mich wieder um, lächelte ihr zu und legte meine Hand auf ihre. Sie zitterte.
    Ich fragte: »Was ist mit dir?«
    Als Anouk nicht reagierte, folgte ich erneut ihrem Blick, sah aber noch immer nichts, was ihren Stimmungswandel hätte erklären können.
    An einem Tisch im hinteren Bereich des Wintergartens saßen zwei ältere Ehepaare, die Empfangsdame stand neben einer Frau, die gerade eingetroffen war, und schien ihr einen Tisch zuzuweisen.
    Die Frau stand mit dem Rücken zu uns, sie hatte dunkles, wallendes Haar, trug ein enges schwarzes Kleid mit einem breiten Gürtel in der Taille und extrem hochhackige Schuhe.
    Noch einmal fragte ich Anouk und diesmal schenkte sie mir ein flüchtiges Lächeln, doch in ihren Augen stand etwas, das ich nur als Angst bezeichnen konnte.
     
    Und dann gab es noch das Sandkastenbild. Im Gegensatz zu den Apfelbäumen löste es keine Ängste in mir aus.
    Es war wie ein Bruchstück aus einem Traum, das losgelöst von etwas Großem und Ganzem isoliert durch meinBewusstsein trieb. Wie das vertraute Gesicht eines Menschen, den man nur vom Sehen her kannte, tauchte das Bild immer wieder vor mir auf. Eines Tages entschloss ich mich, es durch meine Acrylfarben auf der Leinwand sichtbar zu machen.
    In diesem Tag- und Nachttraum war ich ein Kind und lebte in einem Wohnblock. Es war ein abschreckendes Gebäude, hässlich wie die typischen Plattenbauten der DDR.   Die Siedlung war so farb- und trostlos, dass noch nicht einmal die Katzen in die Sandkästen pinkeln wollten. Eigentlich gab es dort auch gar keine Tiere, außer ein paar jämmerlichen, zerrupften Spatzen, die ich gefüttert habe, mit altem Weißbrot, diesem strohtrockenen Zeug, das seine Konsistenz auch nach zwei Wochen im Beutel nicht ändert.
    Der Sandkasten war ein von Randsteinen eingefasstes graues Rechteck, in dem wir Kinder spielten. Der Sand war grob und alt und durchsetzt mit winzigen Betonsplittern, die irgendwann von irgendeiner Baustelle herbeigeschleppt worden waren. Auf jeden Fall brüllte die Sonne auf das Karree, ließ unsere Nasen und Schultern rot werden und unsere Haare golden.
    Natürlich war der Rasen nicht grün und auch nicht dicht, es waren diese bräunlichen Rasenreste, zwischen den Stellen aus festgetrampelter Erde, die sich hartnäckig widersetzten, dem Vergehen, dem Verbrennen.
    Wenn die Schatten länger wurden, dann kam
sie
, in ihrer weißen Bluse und dem grauen Rock. Und brachte das Glück mit.
    Ich fragte mich oft, aus welchem Teil meines Lebens diese Traumschleife stammen mochte, in der ich immer wieder im Sand spielte und Spatzen fütterte. In meiner blauen Hose, mit zerschrammten Knien. Ein nimmer enden wollender Kreislauf.
    Warum löste dieses Bild ein so starkes Gefühl – ja, Glück – aus, obwohl die Szenerie doch im Gegensatz zu den Apfelbäumen so offensichtlich öde war?
    Diese und andere Fragen geisterten durch meinen Kopf. Dazu eine vage Unruhe, die mich nun oft an Deutschland denken ließ. Meine Vergangenheit war zwar verschüttet, aber es gab Hoffnung, noch mehr Bruchteile ausgraben zu können. Was auch immer es kosten mochte.
     
    »Wie läuft’s?«, fragte Julie, als ich einige Tage nach der letzten OP zu einem abschließenden Gespräch in ihrem Sessel versank. Ich überlegte lange und konnte keine passende Antwort finden.
    »Denk immer daran: Du solltest deiner eigenen Vergangenheit nicht wie ein Detektiv hinterherspionieren.« Das hatte sie mir schon mal gesagt.
    Ich zuckte mit den Achseln und brachte zögerlich hervor: »Nein, natürlich nicht.«
    Julie fragte: »Also, Max, was wirst du nun als Nächstes tun?«
    In diesem Moment entschied ich, dass ich nicht nach Garrapata Beach zurückkehren würde.
    Diese Entscheidung schnitt in mein Bewusstsein wie ein scharfes Schwert. Vor meinem geistigen Auge flackerte das Sandkastenbild auf und mit einem Mal war klar, dass ich erst Ruhe finden würde, wenn ich herausgefunden hätte, was es damit auf sich hatte.
     
    Anouk reagierte auf meine Entscheidung, als hätte ich nichts gesagt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher