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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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Weise vertraut. Und plötzlich glaubte ich zu wissen, dass dieses Bild irgendwo eine Wirklichkeit hatte.
     
    Wenn ich zum Atelierfenster hinausblickte, sah ich Anouk oft auf dem Felsvorsprung sitzen. Sie trug einen altmodischen Badeanzug, der mich an die Diven der 50er-Jahre denken ließ.
    Anouk war für mich ein lebender Anachronismus. Ihre Art, sich zu kleiden, die Zurückhaltung in ihrem Stil – sie zeigte niemals zu viel Haut   –, die Sorgfalt, die sie bei der Wahl ihrer Kleidung erkennen ließ, machte sie zu einer Erscheinung aus einer anderen Welt und Zeit. Sie hätte ohne Weiteres eine Rolle in einem alten Hitchcock-Streifen übernehmen können. Sie war schön und kühl, erotisch und geheimnisvoll. Einige wenige Male sah ich sie dort lesen, doch meist saß sie einfach nur da und blickte aufs Meer hinaus.
    Unser Leben verlief mit großer Regelmäßigkeit und freivon Terminen. Das Mittagessen bereitete mal Anouk, mal ich. Danach legten wir uns meistens auf das selbst gezimmerte Bett, unter den Deckenventilator. Wir liebten uns und manchmal redeten wir. Später am Nachmittag setzten wir uns in den Convertible und fuhren die Küste entlang oder auf kleineren Straßen ins Landesinnere. An der Tankstelle in unserer Nähe kauften wir winzige, unglaublich süße und würzige Zimtkaugummis. Noch heute erinnert mich der Duft von Zimt an diese leichte und sorglose Zeit, von der ich damals so fest glaubte, sie sei der Anfang eines neuen und wunderbaren Lebens.
    Anouk und ich entdeckten die Welt für uns. Auf diesen Ausflugsfahrten fühlten wir uns altmodisch, wie Sommerfrischler an einem Sonntag vor fünfzig Jahren.
    Eines Tages erblickten wir ein kleines Hotel auf einem Hügel. Anouk lachte beim Vorüberfahren vor Entzücken und ich machte ohne lange zu überlegen den Vorschlag, dort etwas zu trinken.
    Ich stellte fest, dass niemand mich anstarrte. Niemand verstummte, als ich das Foyer betrat. Dies nahm ich zum Zeichen, dass es Zeit wäre, einen ersten Schritt zurück ins normale Leben zu wagen, raus aus der Isolation.
    An sonnigen Tagen setzten wir uns auf die Terrasse, tranken Tee aus altmodischen Tassen mit bukolischen Szenen und versanken in einer Atmosphäre von Fin de Siècle. An den wenigen Regentagen saßen wir im Wintergarten, ließen uns einlullen in das gleichförmige Ticken der Tropfen und sahen durch die gesprenkelte Scheibe hinunter in eine steil abfallende Schlucht, die mich an einen Miniaturcanyon erinnerte.
    Der Kellner war ein älterer Herr im Frack und ich fragte mich bei jedem Besuch, wie er sich fühlen mochte, an diesem zurückgezogenen Ort über den Hügeln, so abseits derrealen Welt aus Malls und Drive-Ins, aus Budweiser-Neon und Motels, die die Straßen säumten. Wo mochte er wohnen, war er verheiratet oder lebte er allein in einem kleinen Apartment? Hatte er Kinder?
    Ich beobachtete ihn unauffällig und stellte mir all diese Fragen, spann mir ein Leben für ihn zurecht, in dem eine sanfte, freundliche und hübsche Frau mit dem Dinner auf ihn wartete. An anderen Tagen wiederum war ich mir sicher, dass er alleinstehend war und nach der Arbeit über den Wolken in einem Seven Eleven einkaufte, weil alle anderen Geschäfte dann schon geschlossen hätten. Gefragt habe ich ihn nie.
    Das Hotel auf dem Hügel war der einzige Ort außerhalb unseres Strandhauses, den ich mehr oder weniger regelmäßig besuchte. Zu Beginn war es eine spontane und experimentelle Rückkehr in die Welt. Mit der Zeit wurden die Besuche dort zu einer Gewohnheit, die uns beiden lieb und teuer war. Und die doch ein jähes Ende finden sollte.
     
    An einem Sonntag Anfang November kamen wir später als gewöhnlich zu unserem Hotel. Wir hatten den Nachmittag am Carmel River State Beach verbracht und wollten nun auf eine späte Tasse Tee hier einkehren.
    Wir saßen im Wintergarten. Der Tee hatte dieselbe Farbe wie der Canyon unter uns. Wir beobachteten die länger werdenden Schatten. Die Erde leuchtete in einem bräunlichen Rot auf wie der Faltenwurf eines Gewandes, das über alles gebreitet lag. Ich saß mit dem Rücken zum Hotel, Anouk neben mir. Sie konnte sowohl die Aussicht genießen als auch den Raum überschauen. Wie oft in den vergangenen Tagen sprachen wir über meine nächste und zugleich letzte Operation, die unweigerlich näher rückte. Im Gegensatz zu den bisher erfolgten Gewebetransplantationenwar dieser abschließende ein eher kleiner und unproblematischer Eingriff. Zudem nahm ich regelmäßig meine Medikamente,
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