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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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zurück.
    Das Zimmer kam mir dann unerträglich weiß und steril vor. Lebensfern.
    Mich bedrückte der Umstand, hier wie gefesselt liegen zu müssen. In einem Korsett und mit Stahlschienen in beiden Beinen. Mit Binden, die mein verstümmeltes Gesicht irgendwie zusammenhielten.
    Immer wieder fühlte ich die beklemmende Angst, Anouk würde draußen, in der
wirklichen
Welt, einen anderen finden: einen gesunden Mann mit einem starken Körper.  Jemanden, der sie umarmen und tragen konnte, dersie – ganz anders als ich – auch mit dem Körper lieben konnte.
    In meinen gedanklichen Monologen sprach ich mir selbst gut zu. Sicherlich litt ich einfach nur unter der Stille um mich herum. Unter der erzwungenen Isolation und der Unfähigkeit, mich verständlich zu machen. Und eigentlich war das Zimmer ja auch gar nicht so steril. Es war im Grunde sogar hell und freundlich und wie in allen teuren Privatkliniken legte man Wert darauf, eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen.
    Am Fenster stand ein Schreibtisch, etwas weiter davon entfernt eine kleine Sitzgruppe, ein Tisch und zwei Sessel aus weichem, weißem Leder. Gegenüber von meinem Bett hingen drei Fotografien, auf denen weite, in bläuliches Licht getauchte Landschaften zu sehen waren. Verschwommene Umrisse von Kamelen, eine blassgelbe Sonne vor einem hellgrauen Himmel, blaues Wasser und orangerote Fische. Schließlich die Weite der Sahara oder einer anderen unendlichen Wüstenei. Wenn Anouk das Zimmer verließ, sah ich die Kamele ziehen und begann, mit den Fischen zu sprechen.

»V« wie »Victory«
    In diesen Monaten glaubte ich, es würde immer so weitergehen: das Warten von einem O P-Termin zum nächsten, dazwischen Angstschübe, die aufflammten und wieder abebbten.
    Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine Strategie gegen die Angst. Vor jeder Operation schob ich die Panik ein Stückchen mehr beiseite. Ich konzentrierte mich darauf, den Übergang vom Leben in den Narkoseschlaf genau zu beobachten. Von Mal zu Mal steigerte ich mich stärker in den Wunsch hinein, alles dokumentieren zu können. Ich wollte mir das letzte in mein Bewusstsein tretende Bild merken, die letzten Sekunden vor der Bewusstlosigkeit mit meinem geistigen Auge filmen und so in meinem Gedächtnis speichern. Ich wollte mehr erfahren über dieses Hinübergleiten in den Zustand meiner geistigen Nichtexistenz auf einem Operationstisch.
     
    In den Nächten nach den Eingriffen träumte ich von Wörtern. Schon vor dem Einschlafen geisterten sie wie Spruchbänder, von Flugzeugen gezogen, durch mein Bewusstsein. Darauf stand: »Die Erfolge in der rekonstruktiven Chirurgie«, daneben Fotos von Xiao Liewen, dem chinesischen Mädchen, dem sie versucht hatten, ein menschliches Antlitzwiederzugeben. Wie gut ich doch dran war, dachte ich, wenn ich aus diesen Alpträumen erwachte und Xiao mich immer noch mit ihren geschundenen Gesichtsresten ansah. Sie hatte nurmehr ein Auge. Das Gewebe für ihre neue Nase war ihrem Bauch entnommen worden.
    Auch mir haben sie nachgezüchtetes Hautgewebe transplantiert, aber es betraf nur einen vier Quadratzentimeter großen Bereich unterhalb des rechten Wangenknochens. »Lucky me«, wie man hier sagte! Mein Gesicht war
nur
von einer v-förmigen Nahtstelle durchzogen.
    »V« wie »Victory«, das war kein Hohn.
    Mein rechtes Ohr war an den Rändern zwar ein wenig gezackt, der rechte Rand meiner Oberlippe blieb farblos. Doch alles in allem haben sie mich passabel zusammengeflickt, und das mir damals endlos scheinende Leiden, die Omnipräsenz des Schmerzes, alles ist nun – fast – vergessen.
     
    In den späteren Monaten, nachdem sie mir das Korsett abgenommen und die Stahlstäbe aus meinen Beinen entfernt hatten, musste ich gehen lernen. Anfänglich benutzte ich ein Gestell, dann zwei Krücken, dann nur noch eine. Ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal alleine zum Schreibtisch ging, mich langsam auf den Stuhl setzte und hinaussah. Meine Beine schmerzten, ebenso mein Rücken. Doch ich trainierte eifrig weiter.
    An einem sonnigen Tag tat ich meinen ersten selbstständigen Schritt nach draußen, stockend und ungeschickt. Es war, als wäre mir etwas längst verloren Geglaubtes wieder geschenkt worden, als wartete ein noch viel größeres, noch viel kostbareres Geschenk darauf, von mir in Besitz genommen zu werden. Das Leben selbst.
     
    Der Tag, an dem sie mir endgültig die Verbände abnahmen, war gekommen. Ich weiß noch, wie meine Finger zitterten, als Anouk mir den Spiegel
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