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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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beunruhigt als die Gewissheit, dass das Leben an mir vorüberzieht. Es ist nur eine Ahnung, die durch nichts zu begründen ist als durch die Angst selbst. Dass nämlich hinterdiesen Tulpen etwas lauert, das nur darauf wartet, mich anzuspringen und zu verschlingen.
     
    Die Wochen ziehen vorüber wie Stunden. In all der Gesichtslosigkeit umschließt mich der »American Way of Being« wie ein Kokon aus Pragmatismus und Humor, mit einem Übermaß an Verständnis für jeden Nervenzusammenbruch, für jedes Sichgehenlassen.
    Meine Therapeutin Julie, eine dunkelhaarige und ernste Frau mit einem wunderbaren und schleppenden Südstaaten-Slang, versucht, mich zum Sprechen zu bringen.
    Es ist ja nicht so, dass ich nicht wollte. Ich
möchte
sprechen, aber ich erinnere mich an nichts.
    Julie versucht, sich mit mir gemeinsam zu meiner Vergangenheit vorzutasten und Fragmente meines gespeicherten Lebens irgendwie aus mir herauszuholen. Doch ich tauge zu nichts.
    Julie erklärt mir, ich solle die Erinnerungen zulassen, aber auf keinen Fall krampfhaft versuchen, sie herbeizugrübeln. Sie nennt meinen Zustand eine »partielle Amnesie« und bereitet mich darauf vor, dass mich einige Fetzen aus der Vergangenheit blitzlichtartig heimsuchen könnten – das sei sogar ziemlich wahrscheinlich.
    In schockierenden Situationen oder bei Erfahrungen, die schwere Konsequenzen nach sich ziehen, entstehen detaillierte und permanente Erinnerungen an die Erfahrung direkt vor, während und nach dem schockierenden Ereignis. Diese Blitzlicht-Erinnerungen werden aufleuchten, mich erschrecken, mich verwirren, mich vielleicht auch ängstigen. Ich solle sie einfach annehmen, sagt Julie.
    Entgegen ihrem Rat kann ich nicht aufhören zu grübeln. Ich frage mich immer und immer wieder: Was hat ein Strauß roter Tulpen mit Feuer und Tod zu tun?
     
     
    Toter bei Großbrand in Lindau
     
    Bei einem Großbrand auf dem Gelände der Firma Winther Simulatorenbau in Lindau (Bodensee) ist am späten Freitagabend ein Mann ums Leben gekommen. Der in Bregenz ansässige Inhaber des Unternehmens Max Winther wurde bei dem Versuch, den Mann zu retten, schwer verletzt. Wie die Polizei mitteilt, handelt es sich bei dem Toten vermutlich um einen Obdachlosen, der sich in der Vergangenheit wiederholt Zutritt zu einer der Lagerhallen verschafft hatte, um dort zu übernachten. Die Brandursache ist noch ungeklärt.
    Vorarlberger Nachrichten, 7. Januar
     
     
    Brennende Zigarette mögliche Brandursache
     
    Nach dem Brand in einer der Lagerhallen der Firma Winther Simulatorenbau in Lindau haben Spezialisten des Landeskriminalamts die Ermittlungen übernommen. Nach Polizeiangaben suchte auch ein Spürhund nach Hinweisen auf die Ursache des Feuers. Einen technischen Defekt schlossen die Ermittler inzwischen aus. Den Untersuchungen zufolge wurde das Feuer, das in der Nacht von Freitag auf Samstag, den 5. Januar, ausgebrochen war, von einer offenen Flamme oder von Tabakglut ausgelöst. Ein Polizeisprecher gab als mögliche Brandursache eine brennende Zigarette an. Dies decke sich auch mit den Ergebnissen der Obduktion des Toten, bei der festgestellt wurde, dass der Mann stark alkoholisiert gewesen war. Der Inhaber der Firma Winther Simulatorenbau, Max Winther, der bei dem Versuch, den Mann aus den Flammen zu retten, lebensgefährlich verletzt wurde, ist gestern in eine Spezialklinik für rekonstruktive Chirurgie nach Los Angeles gebracht worden.
    Vorarlberger Nachrichten, 30. Januar
     
    Ein Mann ist gestorben, ein Opfer gieriger Flammen, und ich habe ihn nicht retten können. Ein Mann ist gestorben, sein Körper verbrannte zu einem schwarz verkrusteten Haufen Kohle. In manchen Momenten glaube ich, ihn zu sehen, vielleicht ist es aber auch nur die Vorstellung, die ich davon habe, wie es wäre, ihn zu sehen, dort, in einem brüllenden Meer aus Rot.
    Und dann ist es auch schon wieder fort, dieses Fragment eines Bildes, aufgeflackert und ausgelöscht wie eine Stichflamme. Was bleibt, sind nur die Worte, Anouks Worte. Ein armes Schwein, denke ich, dieser Obdachlose, der dort verbrannt ist. Und ich konnte ihn nicht retten.
     
    Ich grüble auch über unser Leben davor. Wir sind also ein kinderloses Ehepaar mittleren Alters. Warum haben wir keine Kinder? Ich wage nicht, Anouk zu fragen. Wenn sie der Grund dafür war, dann möchte ich sie nicht verletzen. Wenn ich der Grund dafür war, so gesellt sich zu meinen Zerstörungen auch noch dieser andere Makel. Und so ziehe ich in diesem Fall die
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