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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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das wird dir guttun.«
     
    Wie konnte ich ihr sagen, dass ich nicht
die
Welt wiederfinden wollte, sondern
meine
Welt?

Du fliehst und streust
    die verwirrten Namen der Dinge
    hinter dich.
     
    HILDE DOMIN

Goldene Stadt
    Der Flug von Los Angeles nach Prag war wie ein seltsamer Traum. Schon auf dem Flughafen von Los Angeles, dieser in alle Richtungen hinauswachsenden, riesenhaften Krake, kam ich mir vor wie einer, der aus seinem Kokon geschlüpft war. Fast zwei Jahre lang war ich in eine weiße und reine Welt eingesponnen gewesen. Fast zwei Jahre lang hatte mein Leben auf dreitausend Quadratmetern stattgefunden. In einem weißen Zimmer, das den Lebensmittelpunkt darstellte und von dem ich mich allerhöchstens einige Hundert Meter weit weg bewegt hatte, um im Park spazieren zu gehen. Und auch das Zwischenspiel in Garrapata Beach hatte fernab von jeglichen gesellschaftlichen Strukturen stattgefunden.
     
    Weihnachten stand vor der Tür und es grenzte an ein Wunder, dass wir so kurzfristig überhaupt noch zwei Flugtickets ergattert hatten. Im Flugzeug roch es nach Tannenzweigen. Ich geriet unwillkürlich in Weihnachtslaune. Meine Stimmung war ausgelassen wie lange nicht mehr. Alles würde gut werden, das wusste ich nun.
    Zur Feier des Tages wollte ich Wein trinken, doch Anouk lächelte die Stewardess kopfschüttelnd an und erinnerte mich an die Medikamente, die ich immer noch nehmenmusste und die sich mit Alkohol kaum vertragen würden. So stießen wir mit Mineralwasser an, auf den ersten Schritt zurück in unser altes Leben. Anouks Augen wurden feucht. Ich redete mir ein, es seien Freudentränen.
     
    Anouk, die rechts neben mir am Fenster saß, hatte den Kopf zurückgelegt. Sie schien zu schlafen. In der Sitzreihe links neben mir saß ein kleiner blonder Junge. Während des Starts begann er zu wimmern und drückte seine Händchen auf die Ohren. Tränen kullerten ihm die Backen herunter.
    Ich spürte auf einmal das schier übermächtige Bedürfnis, diesen kleinen Kerl in den Arm zu nehmen, meine Hand auf sein Köpfchen zu legen und ihn fest an mich zu drücken. Immer wieder musste ich zu ihm hinsehen, auf sein kleines, verzerrtes Gesichtchen. Erst, als er sich beruhigte, konnte auch ich mich entspannen.
    Anouk blinzelte, schlug die Augen auf und sah mich erschrocken an. »Was ist mir dir?«
    Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. »Der Kleine … Ich   … Er tut mir so leid.«
    Anouk legte den Arm um mich, zog meinen Kopf an ihren und küsste mir die Tränen fort. Ich fragte mich, ob ich schon früher so ein sentimentaler Typ gewesen war oder ob das große Feuer und die lange Zeit, die ich in der Klinik verbracht hatte, mich dazu gemacht hatten.
    Bis zu unserer Ankunft sah ich hin und wieder zu dem Kleinen hinüber, der inzwischen damit beschäftigt war, auf einem Blatt Papier herumzukritzeln mit Stiften, die ihm die Stewardess gegeben hatte. Seine Bewegungen waren konzentriert und ungelenk. Das Ausmalbild zeigte etwas, das von mir aus wie eine Baustelle mit Baggern, Kränen und Lastwagen aussah, und der Kleine war rührend in seinemEifer, über sämtliche vorgegebenen Linien hinwegzumalen. Er hielt den Stift in der Faust, drückte fest auf und fuhr hin und her, mit eckigen Bewegungen, wobei er einige Male aufsah und seinen Vater anlächelte, der ihm ermutigende Worte zusprach.
    Und auf einmal war es wieder da, das Gefühl der Rührung. Ich spürte erneut, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Rasch lehnte ich den Kopf zurück, blinzelte, schloss die Lider und blieb so sitzen, bis ich mich gefasst hatte.
     
    Bei unserer Ankunft in Prag erklang ›Die Moldau‹ aus Lautsprechern. Ich sah hinaus in einen Regen aus grauen Bindfäden. Vor dem Taxistand wartete eine Traube Reisender, die sich nur zäh auflöste. Endlich stiegen auch wir in ein Taxi, auf dessen Hutablage ein Bäumchen mit roten, grünen und blauen Lichtern blinkte.
    Bald steckten wir im Prager Schlechtwetterverkehr fest. Aus dem Radio tönte ›Last Christmas‹, tschechische Satzfetzen kamen und gingen und ich dachte noch, dass die Welt dabei war, eine zu werden, und ließ mich einlullen vom Regen, dem Lichterzauber über den Eingängen der Büros und Hotels und Restaurants. Mit Mühe entzifferte ich immer wieder Kreidetafeln, auf denen Knödel und Gulasch angepriesen wurden. In den Schaufenstern hingen bunte Holzmarionetten, Engel … und immer wieder Lichterketten.
    Ich fühlte mich gut hier, in diesem alten Diesel-Mercedes, mitten im
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