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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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freundschaftliche Ehe an Bedeutung gewinnen, in der gemäßigte Gefühle den Verzicht darauf erleichtern, den Anderen zu sehr einzuhegen. Freiheit und Bindung können eine glücklichere Verbindung miteinander eingehen, Auszeiten der Gefühle lassen sich besser überstehen. Möglich ist außerdem die kollegiale Ehe , die nüchterne Partnerschaft auf der Basis eines wechselseitigen Mögens, mit einer guten Zusammenarbeit wie unter Kollegen am Arbeitsplatz. Und diese verschiedenen Arten von Ehe können auf unterschiedliche Weise experimentell variiert werden: Eine Variante bleibt die konventionelle Ehe mit flexibler oder immer noch traditioneller Rollenverteilung, für die in frühromantischer Zeit die Verbindung Friedrich Schleiermachers mit der zwei Jahrzehnte jüngeren Henriette von Willich Pate stand.
    Eine zweite Variante, die in geschwätziger Zeit an Reiz gewinnt, ist die stumme Ehe , das Zusammenleben in schweigsamer Form, wenn zwei das wollen: Der Musiker Frank Zappa, bis zu seinem Tod 1993 verheiratet mit Gail Zappa, mit derer vier Kinder hatte, soll auf die Frage, was seine Ehe so haltbar mache, lapidar geantwortet haben, das liege daran, »dass wir praktisch nie miteinander reden«. Eine beinahe schon konventionell gewordene dritte Variante ist die offene Ehe , offen für Zusatzbeziehungen, die den Kern der Ehe nicht antasten, ähnlich dem »Liebespakt«, den Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir schlossen. Eine vierte Variante in übersexualisierter Zeit ist die keusche Ehe , der Verzicht auf jede Sexualität, wie Lou Andreas-Salomé und Friedrich Carl Andreas dies praktizierten. Eine fünfte Variante könnte die anderskeusche Ehe sein, der willentliche Verzicht auf Andere, wenn bei dem Einen schon sexuelle Befriedigung zu finden ist; überschüssige Energien lassen sich umso mehr in Arbeit und Kunst investieren, Paul Klee machte davon Gebrauch: »Die Ehe faßte ich als sexuelle Kur auf« ( Tagebücher , Eintrag Nr. 958 von 1915).
    Der leidenschaftlichen, freundschaftlichen und kollegialen Ehe mit ihren Varianten stehen andere Arten gegenüber: Spätmoderne Menschen bevorzugen zuweilen die funktionale Ehe , eine Vertragsehe als verschärfte Form der Vernunftehe, um Abmachungen in Rechtsform zu gießen, Rollen festzuschreiben und bei der irgendwann anstehenden Trennung Streit zu vermeiden; auch die »Scheinehe« hat hier ihren Platz. Manche versuchen vor ihrem Tod noch, dem verbleibenden Partner Rentenansprüche zu sichern; bei einer Ehedauer von weniger als einem Jahr gilt diese Verbindung aber zumindest in Deutschland als »Versorgungsehe«, die nicht zählt.
    Von einer beständigen Konfrontation zeugt die streitbare Kampfehe , wie Sofja Behrs und Lew Tolstoi sie vorführten ( Eine Ehe in Briefen , 2010), Jahrzehnte später auch Liz Taylor und Richard Burton, nicht etwa nur im Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (Regie Mike Nichols, USA 1966, nach einemBühnenstück von Edward Albee). In einer solchen Ehe wird der Streit zum Lebenselixier, wohl als notwendiger Gegenpol zu einer starken erotischen Anziehung. In der Mobbingehe wiederum wird der einseitige oder wechselseitige Ausschluss des je Anderen aus dem eigenen Leben bereits im Verlauf des Ehelebens selbst realisiert.
    Den Verhältnissen des 21. Jahrhunderts kann aber wohl vor allem eine Ehe auf Distanz Rechnung tragen, mit einer gefühlten Gemeinsamkeit in realer Getrenntheit, mit leidenschaftlichen, freundschaftlichen, kollegialen, funktionalen oder streitbaren Komponenten. Das kann in der virtuellen Form der Tele-Ehe geschehen, einer Fernverbindung, die sich der jeweils aktuellen Medien der Telekommunikation bedient – eine Aktualisierung der einstigen Briefehe mit gelegentlichen persönlichen Begegnungen, wie sie Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff, auch Anton Tschechow und Olga Knipper ( Mein ferner lieber Mensch , Liebesbriefe, 1998) im frühen 20. Jahrhundert pflegten. Denkbar wäre ebenso eine Leoparden-Ehe , benannt nach den edlen Einzelgängern im Tierreich, die sich zwar selten aufsuchen, dann aber ausgiebig paaren, in drei Tagen bis zu hundertmal, bevor sie wieder ihrer Wege gehen. Die Distanz würde auch eine Anbetungsehe möglich machen, bei der einer den Anderen verklärt.
    Eine Möglichkeit wäre darüber hinaus die Ehe auf Zeit , die nicht nur eine »Genussehe« gegen Geld wäre, wie sie im Iran geläufig ist und eine Stunde oder auch Jahre dauert ( Im Bazar der Geschlechter , Regie Sudabeh Mortezai, Österreich/Iran 2010). Die
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