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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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Experiments, denn wie sonst sollte ausfindig zu machen sein, welche Formen sie annehmen kann? An die Stelle der »Blutsverwandtschaft« rücken dabei Wahlverwandtschaften , die anders als in Goethes Roman von 1809 weniger mit Spielen der Liebe im engeren Sinne zu tun haben, mehr mit Netzen der Freundschaft, die die einstige Verwurzelung der Familie in weit verzweigten Netzen der Verwandtschaft teilweise oder vollständig ersetzen.
    Die Wahrnehmung von Verwandtschaft obliegt einer Wahl, denn aus der Tatsache, genetisch oder gesetzlich verwandt, also Onkel, Tante, Nichte, Neffe, Cousin oder Cousine zu sein, folgt keine Verpflichtung zu wirklichen Beziehungen mehr. Aufgrund einer möglichen Abwahl von Beziehungen und neuerlichen Wahlakten werden Beziehungsarten zur Regel, die einst eher schicksalsbestimmt waren, wie etwa Stiefeltern, Stiefgeschwister, Halbgeschwister; neue kommen hinzu, wie die oder der »Ex« aus früheren Beziehungen. Mit dem planetenweiten Verkehr zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen wächst zudem die Zahl globaler Beziehungender Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft. Und häufig sitzen imaginäre Familienmitglieder mit am Tisch, nicht mehr nur unvergessene Verstorbene, sondern auch Bildschirmgesichter, die wie gute Bekannte und Freunde erscheinen, das Lebensgefühl stark beeinflussen und bei ihrem Tod beweint werden (Michael Jackson), als wären nahe Angehörige verstorben.
    Ein Modell von großer Beharrungskraft bleibt weiterhin die moderne Kleinfamilie , Vater, Mutter, Kind, auch wenn die Trennung der Eltern leicht möglich ist und in vielen Fällen wirklich wird. Aus den Bruchstücken der Kleinfamilie entstehen Patchwork-Familien in immer neuen Konstellationen von beträchtlicher Buntheit, die die allzu kleine Kleinfamilie sprengen und für spannende, auch spannungsreiche Versuchsanordnungen sorgen (Rosemarie Nave-Hertz, Familie heute , 2012).
    Ein Experiment sind Regenbogenfamilien , gegründet von gleichgeschlechtlichen Paaren, die mit mitgebrachten und adoptierten Kindern, Kindern aus Samenspenden und künstlicher Befruchtung, ausgetragen vielleicht von Leihmüttern, zu Eltern werden. Das mag ethische Fragen aufwerfen, aber Kinder wachsen bei diesen Eltern ebenso behütet auf wie in herkömmlichen Familien, mit vergleichbaren Rollenverteilungen der Eltern und den unvermeidlichen Konflikten zwischen Eltern und Kindern. Wie in anderen Familien, in denen ein Elternteil fehlt oder andere Eltern als die leiblichen erziehen, fragen die Kinder allerdings irgendwann nach ihrer Herkunft. Unproblematisch scheint es dann zu sein, mehr als eine Mutter zu haben (etwa bei einer Eizellspende und Leihmutterschaft), problematischer, keinen Vater zu kennen, der vielleicht in einem »Samencocktail« anonymisiert worden ist ( The Kids Are All Right , Regie Lisa Cholodenko, USA 2010).
    Dass die Geschichte der Familie lange Zeit von der Groß f amilie geprägt wurde, wirkt nach: Ein gemeinsames Leben vieler Menschen in emotionaler Wärme und Geborgenheit wird ihr zugeschrieben, ihre Zwänge sind vergessen. Aus dem Versuch zu ihrer Neuerfindung gingen im 20. Jahrhundert familienartige Gemeinschaften wie die sozialistisch inspirierte »Kommune« hervor, aus der dann, etwas nüchterner, die Wohngemeinschaft (WG) wurde, mit einem Zusammenleben mehrerer oder vieler Menschen in je eigenen Zimmern, um nicht allein leben zu müssen und den Wohnraum bezahlbar zu machen, eventuell mit gemeinsamer Haushaltsführung und den ewig schwierigen Folgefragen: Wer wäscht ab, wer bringt den Abfall weg? Anders als in einer Kommune bleibt die Sexualität in der WG meist Privatsache des Einzelnen.
    Ein Experiment zur Erweiterung der Familie, mit getrennt oder gemeinsam gelebter Sexualität, ist im 21. Jahrhundert die Polyamorie , die Vielliebe, eine modernisierte Form der Polygamie, die anders als deren Tradition vielfache Variationen erlaubt, was Geschlecht und Zahl der Beteiligten angeht. Langeweile entsteht in dieser Konstellation kaum, jeder kann mit mehr als einem Anderen mehr Bedürfnisse befriedigen. Vielliebe kann auch mehr Vielleicht heißen: Vielleicht eine Beziehung, vielleicht auch nicht. Die Probleme der Koordination im Alltag, die unter modernen Bedingungen zwischen zweien schon groß sind, werden allerdings noch größer. Das gilt erst recht für die Probleme der Entflechtung im Falle einer Trennung.
    Zum Experiment wird, was in Großfamilien einst die reinste Selbstverständlichkeit war: Das Leben mit
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