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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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eine Ahnung von Erhabenheit und Sinn zu spüren«. Für ihn selbst ist Gott nur ein anderes Wort für die rätselhafte Unendlichkeit und Ewigkeit des Alls. Manchmal widerfährt es ihm, mit aufgeschlagenen Augen ein »Danke!« zum Himmel zu schicken. Ohne Beziehung zu diesem Gott, mochte sie vielleicht auch einseitig sein, »war sein Leben ohne Sinn«. Und wenn das alles nur ein Wahn wäre? Dann wäre es eben »das schönste Wahnsystem der Welt« (351).
    Ist das ein beunruhigender Gedanke? Dient alle Sinngebung letztlich dazu, Wahnsysteme zu etablieren? Der Sinn, ein Wahn? Aber auch im Wahn ist noch ein Sinn, genauer gesagt eine Explosion von Sinn, eine transzendente Fähigkeit, die es ermöglicht, alle Endlichkeit und Wirklichkeit zu überschreiten. Auch dieser Sinn ist von Bedeutung für das menschliche Wesen, das die Überschreitung liebt, wenngleich es um des Lebens willen gut daran tut, nicht jedem Wahn zu folgen. Es scheint zu den Eigenarten dieses eigenartigen Wesens Mensch zu gehören, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten so weit wienur irgend möglich zu erkunden. Insbesondere mit der Liebe in all ihren Spielarten und Variationen bemühen Menschen sich aufopfernd darum, diesem möglichen Sinn der menschlichen Existenz gerecht zu werden. Vermutlich geschieht dies im Rahmen der Einbettung in die Evolution, die auf solche Erkundungen angewiesen ist und in deren Verlauf nie von vornherein schon feststeht, was alles wirklich werden kann. Nichts ist abseitig und absurd genug, um diesen evolutionären Zweck zu erfüllen. Zugespitzt lässt sich sogar sagen: Die Menschen spinnen, aber das ist ihr Job.
    Ich liege noch immer auf der grünen Wiese inmitten der großen Stadt, blicke in den Nachthimmel über mir und fühle grundlosen Frieden in mir: Wenn es Gott gibt, denke ich, dann ist dies sein Anblick. Den Sternenhimmel zu betrachten, ist selbst eine Art von Gottesdienst. Wie bei jedem Anblick ist das Eigentliche jedoch unsichtbar: Die Energie, in diesem Fall die Energie, die die Sterne bewegt, sie auflodern lässt und wieder auslöscht in Zeiten, die jenseits jeder menschlichen Erfahrung liegen. In jedem Gedanken, den ich denke, in jeder Empfindung, die mich bewegt, ist diese Energie wirksam. Diesem »Einen« entstammt alles, auch Körper, Seele und Geist des Menschen, und diesem Einen »strebt alles zu«, jedenfalls ist dies die Bedeutung der Rede vom Universum , das seinerseits nur eine von zahllosen kosmischen Möglichkeiten darstellt, wenn der Theorie von Pluriversen Glauben zu schenken ist, die das bisher bekannte und womöglich endliche Universum noch unendlich überschreiten. So denke ich jedenfalls. Ob das die Wahrheit ist, weiß ich nicht.
    Was ist der Mensch? Ein Wesen, das in konzentrischen Kreisen lebt . Ich bewohne nicht nur den Ort, an dem ich lebe, und nicht nur den Planeten, der mir das Leben ermöglicht, sondern auchden Kosmos, den ich an Bord des Raumschiffs Erde durchquere. In nächtlichen Gedanken setze ich mich in Bezug zu diesem weitestmöglichen Kreis des Lebens. Und zugleich lebe ich im engsten Kreis der Beziehungen, im Umgang mit mir selbst und im liebevollen, freundschaftlichen und kollegialen Umgang mit Anderen, ohne den kein Leben möglich ist, vor allem dann, wenn das Leben schwer wird, zu schwer zu bewältigen für einen allein. Bejahende Beziehungen ermöglichen mir, im Leben Sinn zu sehen und dem Leben Sinn zu geben. Funktionale Beziehungen sorgen dafür, dass vieles in diesem Leben einfach nur funktioniert, auch wenn es lieblos erscheint und allenfalls rationalen, keinesfalls emotionalen Sinn vermittelt. Ärgerliche Beziehungen und gehässige Auseinandersetzungen und Ausschlüsse kann ich nicht restlos vermeiden.
    Das ganze Spektrum des Lebens ist auch erfahrbar beim Leben über den engsten Kreis hinaus, an allen Orten, an denen Menschen arbeiten, sich begegnen, miteinander und gegeneinander ihr Leben bewältigen, auch ohne sich persönlich zu kennen, etwa in Schulen, Behörden, Betrieben, Krankenhäusern. Auch für dieses Leben mit Anderen und der Welt brauchen Menschen Lebenskunst. Aber das ist ein Thema für morgen. Für heute habe ich mich müde gedacht und kann mich schlafen legen, eingebettet in den Sinn, der mir in der befremdlichen Weite des Alls ein vertrautes Zuhause gibt.

Zum Autor
    Wilhelm Schmid , geboren 1953 in Billenhausen (Bayerisch-Schwaben), lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt.
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