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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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in der modernen Zeit, in der viele Menschen ihn nicht mehr für wahr halten können, sodass mit technischer Hilfe Ersatz dafür geschaffen werden muss: An allen möglichen und unmöglichen Orten sollen die Augen einer Videoüberwachung die Verbesserung der öffentlichen Moral sicherstellen. Ein humanerer Ersatz für den Blick Gottes ist der prüfende, wohlwollende oder skeptische Blick des Anderen in einer Beziehung der Liebe, der Freundschaft und der Kollegialität: Auch er kann das eigene Tun und Lassen in Frage stellen und dabei dennoch ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Ein Ende der Beziehung kann jedoch dazu führen, mit der Abwesenheit dieses Blicks in die völlige Ungeborgenheit zu fallen, statt sich wie beim Blick Gottes sagen zu können, dass der Andere dennoch immer »da ist«, auch wenn er zeitweilig verloren zu sein scheint.
    Die Zuwendung und Zuneigung zu Gott muss dabei nicht zwangsläufig eine Beziehung der Liebe im leidenschaftlichen Sinne sein, die immer mit der Wankelmütigkeit der Gefühle zu kämpfen hat. Manche Menschen bevorzugen eher eine Beziehung der Freundschaft , die im Unterschied zur intimen Nähe der Liebe mehr Distanz wahren kann, auch skeptische Distanz, sodass ein größerer Freiraum entsteht. Eine Freundschaft könnte der Beziehung zwischen Mensch und Gott sogar angemessener sein als die Liebe, die ihm zu nahe kommt. Der Freund erkennt den Anderen in seiner Andersheit an und umklammert ihn nicht, bis sich das wirkliche oder vorgestellte Einssein mit ihm noch zur Auflehnung gegen ihn verkehrt. Den Gedanken, die Beziehung zwischen Mensch und Gott könnte eine »göttliche Freundschaft« sein, hat bereits Thomas von Aquin gedacht ( divina amicitia , Summa theologiae , II, 24, 12), schließlich habe der Gottessohn Jesus seine Jünger »Freunde« genannt ( philoi ; Johannes-Evangelium , 15, 14). Ohnehin sei es, wie Thomas meint, »unmöglich, unaufhörlich an Gott zu denken und von der Zuwendung zu ihm bewegt zu werden«. Könnte es sein, dass Gott seinerseits Wert darauf legt, nicht unentwegt für eine »Einheit« bereit sein zu müssen, die ihn über Gebühr beansprucht? Auch ein Gott bedarf der Schonung.
    Ein Problem der Freundschaft ist lediglich, dass sie sich nicht gut mit der theologischen Auffassung verträgt, der Mensch solle Gott gehorchen und sich ihm unterwerfen. Und kann es bei der extremen Ungleichheit zwischen einem endlichen und unendlichen Wesen wirklich Wechselseitigkeit geben, wie sie zur Freundschaft gehört? Bleibt als weitere bejahende Möglichkeit noch die kooperative Beziehung zu Gott: Ihn zu mögen, ihm wohlgesonnen zu sein und sich dies auch von ihm zu erhoffen; sich im Gebet an ihn zu wenden in der Hoffnung, von ihm erhört zu werden, wenn aber nicht, dann eben nicht, nicht alles hängt allein davon ab.
    Vielen modernen Menschen scheint das gleichwohl keine gute Geschäftsgrundlage zu sein, allenfalls lassen sie sich, analog zu ihren irdischen Beziehungen, auf eine funktionale Beziehung ein: Gott hat »einen Job zu machen«, vor allem gerecht hat er zu sein, um der Arbeitsplatzbeschreibung der zuständigen Experten zu entsprechen, und sollte er den Forderungen nicht genügen, steht ihm eine Kündigung ins Haus. Geehrt fühlt Gott sich da wohl eher von einer agonalen Beziehung , einer kämpferischen Auseinandersetzung mit ihm, gerade nicht einer fraglosen Unterordnung unter ihn; schon der Kampf Jakobs im Alten Testament ( Genesis 32, 23-32) liefert ein Beispiel dafür. In moderner Zeit aber wird Gott oft nicht einmal mehr einer Auseinandersetzung für wert befunden: Dann ist die Beziehung zu ihm eine ausschließende , explizit im Falle des Atheismus, implizit im Falle der Ignoranz.
    Ist darüber hinaus auch eine virtuelle Gottesbeziehung möglich? Zumindest lässt sich eine Applikation ( App ) im Smartphone installieren, iTalk to God , in der Hoffnung auf göttliche Eingebungen in schwierigen Angelegenheiten: »Meine Frau hat mich missachtet, was soll ich tun?« Die Antwort kommt prompt: »Vermutlich hattest du mal wieder nur Sex im Sinn. Mehr Enthaltsamkeit gibt deiner Frau weniger Gelegenheit zur Missachtung. Vielleicht hast du zuallererst deine Frau missachtet. Du siehst den Splitter in ihrem Auge, den Balken im eigenen Auge siehst du nicht.« War das jetzt meine eigeneStimme? Oder doch die Stimme aus dem Jenseits? Das lässt sich in der virtuellen Welt nicht immer zuverlässig sagen. Aber auch in der realen Welt wirft die Beziehung zu Gott noch einige
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