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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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Du, die Sprache legt Zeugnis davon ab und zeigt, wie Selbstbeziehung und Gottesbeziehung sich parallel entfalten können. Augustinus hofft, mit der Liebe zu Gott die Schwäche seines Ich durch eine neue Zufuhr von Kräften heilen zu können, und dieses Heil besteht darin, nicht mehr in sich selbst zerstritten zu sein. Mit Blick auf Gott verspürt das Ich in sich einen neuen starken Zusammenhang, somit Sinn , mit dessen Hilfe ein wohlgebautes Ich zustande kommt. Das Ich verdankt Gott seine innere Integration, nachdem es die größte innere Zerrissenheit durchlebt hat: Gott markiert »den Ort der Sammlung für alles in mir Verstreute«. Im Angesicht Gottes wird Augustinus erst zum Individuum, und dass er den Mut hat, dies so darzustellen, wo doch das Individuumgewöhnlich zugunsten der Institution der Kirche zurückzustehen hatte, wirkte lange nach und gewann kulturbildende Kraft.
    Und was liebt Augustinus an seinem Gott? Den Inbegriff der Schönheit ( pulchritudo ). Für ihn ist Gott jenseits aller Endlichkeit das absolut Bejahenswerte, an dem alle endlichen Wesen und Dinge teilhaben. Er ist das Innerliche, Antreibende, Lebenmachende, das »Leben des Lebens« ( vitae vita ). Wie sehr das von Platons Symposion beeinflusst ist, wird allein schon daran deutlich, dass er »Stufe um Stufe« (VII, 17, 23) zu dieser Anschauung emporsteigt. Gott ist jedenfalls ein Ausdruck für das, was er absolut bejahen kann, und das glückliche Leben besteht darin, sich an dieser Schönheit zu erfreuen und mit dem Blick auf sie neu aufzuleben. »Du hast mich berührt«, sagt Augustinus im 10. Buch, und es ist diese Berührung, die ihn »entflammt«, Metapher für ein Maß an Energie, das die irdische Gestalt in eine andere Daseinsform zu transformieren vermag. Oder ist es Augustinus, der mit seiner Berührung Gott entzündet, zumindest ein Bild Gottes, eine Vorstellung von ihm entstehen lässt? Das bleibt hier so offen wie Jahrhunderte später bei Michelangelo, der in der Sixtinischen Kapelle die wechselseitige Berührung von Mensch und Gott malt.
    Alle Vorstellungen von Gott, die Menschen sich machen, und alle Aussagen über ihn zeigen eines: Gott ist auch ein Kunstwerk, an dem Menschen mit enormer Energie arbeiten. Mit der Arbeit an diesem Werk wird das arbeitende Ich, wie bei anderen Werken, selbst bearbeitet, fabricando fabricamur , wie dies im Lateinischen heißt. Das Subjekt braucht ein Objekt, mit dessen Gestaltung es sich selbst gestaltet, und das geschieht beim produktiven , herstellenden Akt der Gestaltung ebenso wie beim rezeptiven , aufnehmenden.
    Den Ort in sich, den Gott bewohnen kann, findet Augustinus schließlich in der aufnahmebereiten Weite seines Geistes, insbesondere im »ungeheuren Raum des Gedächtnisses«, dessen genauer Beschreibung er viele Seiten widmet. Es ist aber nicht nur das Erinnern-, sondern auch das Vorstellenkönnen, das dem menschlichen Geist erlaubt, sich als Teil der ungeheuren göttlichen Schöpfung zu begreifen. Vielleicht markiert dies den entscheidenden Unterschied, der auf lange Sicht zur Entwicklung der abendländischen Kultur beigetragen hat: Dass die schöpferischen Kräfte des Individuums freigesetzt worden sind von der persönlichen Beziehung zu Gott, von dem es sich geliebt wusste und durch den ihm eine Fülle von Sinn zuteilwurde. Das selbstbewusste Ich der Renaissance ist ohne diese Vorarbeit nicht denkbar, erst recht nicht das stolze moderne Ich. Bis sich dieses Ich im Fortgang der Geschichte immer mehr von Gott befreit und mit der Befreiung von vielen weiteren Bindungen wieder in der Sinnlosigkeit versinkt.
    Für eine neuerliche Sinngebung könnte es von Interesse sein, neben der Gründung und Bewahrung vieler anderer Bindungen und Beziehungen auch mit der Beziehung zu einer transzendenten Dimension einen neuen Anfang zu machen. Das von Transzendenz inspirierte Leben hat freilich mit einem Problem zu kämpfen, das schon Augustinus wohlbekannt war: Dass der Liebende immer dann, wenn die Gottesliebe ihm einen »ungewöhnlichen Zustand unsäglichen Glücks« beschert hat, wieder zurückfällt ins alte Leben, »der Alltag schlingt mich wieder ein und nimmt mich wieder fest in seine Bande« (X, 40), ähnlich wie bei der irdischen Liebe.
    Jede Entweltlichung zieht eine umso härtere Konfrontation mit der Weltlichkeit nach sich. Augustinus ist sich darüber im Klaren, dass die ontologische Differenz zwischen dem unsterblichen Gott in seiner anderen Dimension und dem sterblichen Ich in seinem
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