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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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zu Menschen verknüpft, die doch alle Gottes Geschöpfe sind, an denen er nichts Verwerfliches erkennen kann, nur Bedauernswertes. In seiner ganzen widersprüchlichen Fülle erscheint ihm das Menschsein selbst sogar göttlich.
    Sozusagen stellvertretend für Gott liebt Isidor die Menschen, manchmal aber auch nicht, und das nimmt er sich nicht übel, denn er ist nun mal nicht Gott. Die besonders Aufrechten im Glauben erscheinen ihm oft suspekter als die, die an nichts glauben. Und sollten bigotte Gläubige ihn verdrießen, Versagensängste ihn plagen oder Zweifel am Glauben, Überdruss am Amt, Schwierigkeiten mit dem Neinsagen, mit dem Zölibat, mit der anwesenden Haushälterin, mit der abwesenden Haushälterin, dann trinkt er zuweilen ein Glas zu viel. Jahrelang macht er das, bevor er sich besinnt und sich doch lieber wieder den Schicksalen widmet, angesichts derer es nicht weiter verwunderlich wäre, wenn er in Depressionen versinken würde. Aber er verweigert sich der Niedergedrücktheit und pflegt vorsätzlich die Heiterkeit, macht an manchen Abenden eine gute Flasche Wein auf und isst bei Kerzenlicht ein wenig Käse dazu. Die Zuwendung zu sich selbst erlaubt ihm wieder die aufrichtige Zuwendung zu Anderen und zu Gott. Begeistert kann er am Sonntag das Lob Gottes singen.
    Der Alltag ist sein Ankerpunkt. Keine Revolution wird jemals etwas daran ändern, dass das Leben vom Alltag regiert wird, in dem sich jede Aufwallung wieder zerstreut. Wer revolutionär gesinnt ist, sieht im Alltag einen Verräter und träumt lieber von einem anderen Leben, das ein einziger Ausbund an Intensität ist. Aber das Problem ist nicht der Alltag, sondern die Weigerung, ihn anzuerkennen, geschweige denn zu lieben. Jede Liebe verleiht Kraft, auch diese, bei ihrem Ausbleiben aber entsteht eine innere Leere, die den Alltag mühselig erscheinen lässt und zu einem Gefängnis macht, aus dem es kein Entrinnen gibt. Diejenigen hingegen, die dem Alltag nicht gram sind, sich vielmehr bereitwillig in ihn einfügen, erfreuen sich an den zahllosen göttlichen Momenten, die er bereithält und die wirklich zum Brüllen sind: Im bewegten Leben Isidors ist daran kein Mangel. Zu seinem Alltag gehört auch die Seelsorge im Krankenhaus, bei der er Menschen begegnet, die so aufgewühlt und einsam sind, dass sie gerne über ihr Leben reden. Er ist ihnen behilflich, sich wiederzufinden, wenn sie durcheinandergeraten sind. Er ist ihr Gesprächspartner bei ihrem Nachdenken über ein »richtiges Leben«, wenn sie das Gefühl haben, ein »falsches« zu führen, aber er belehrt sie nicht, schon weil sie letztlich sowieso machen, was sie wollen.
    Ihm hilft eine gewisse Systematik, mit der er an alles herangeht: Er legt sich »Konzepte« zurecht, die Zusammenhängeund somit Sinn erkennen lassen, und was sinnvoll erscheint, gewährt Glück: »Ohne Sinn kein Glück« (296). Er findet und erfindet Kunstgriffe, um die Situationen zu bewältigen, in die ihn das Leben unvermutet versetzt. Beispielsweise gewinnt er Kraft daraus, dass er sich manchmal willentlich dem Negativen aussetzt: »Er konfrontierte sich so hart mit seiner Unfähigkeit, bis er sich auf seine Fähigkeiten besann.« Als er noch weitere Gemeinden mitbetreuen muss und ungehalten darüber ist, ständig unterwegs sein zu müssen, beschließt er kurzerhand, »seine Einstellung zu ändern, wenn er schon seine Lage nicht ändern konnte«. Die lästigen Fahrten sieht er fortan als willkommene Gelegenheit zur Meditation, um über das Leben nachzudenken, über »die vielen unbegreiflichen Dinge«, die sich vor seinen Augen abspielen, die Komödien und Tragödien, Kuriositäten und Absurditäten.
    Er hat mit den Heranwachsenden in den Schulen zu tun, die sich kindisch gebärden, und er besucht die Menschen im Altersheim, die wieder kindisch werden. In der Beichtstunde erlebt er, wie manche sich um jeden Preis schuldig fühlen wollen an allem, Andere an nichts. Auf dem Totenbett sind manche mit ihrem Schicksal einverstanden, Andere weinen, klagen und schreien. Der Eine tut sich schwer mit dem Sterben, weil er meint, zu viel Unkeusches getan zu haben, der Andere, weil es ihn reut, zu viel davon ausgelassen zu haben. Nicht allen begegnet er mit der gebotenen christlichen Liebe: Als sich am Totenbett eines Familienoberhaupts die Hinterbliebenen heillos zu zerstreiten beginnen, »dachte er an sein Wiener Schnitzel und hasste sie alle von Herzen« (81).
    Isidor liebt es, dieses Leben mit den bescheidenen Mitteln zu
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