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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben
Autoren: Wilhelm Schmid
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Zeit, auf Wechselseitigkeit pochte, unter mutmaßlich bewusstem Verzicht auf den üblichen Zusatz der christlichen Tradition, dass dies nur »zum Zweck der Zeugung« geschehen dürfe.
    Eine ausgearbeitete, aufgeklärte Idee der Ehe vertritt zu dieser Zeit Adolph Freiherr Knigge in seinem 1788 erstmals erschienenen, viele Male neu aufgelegten Buch Über den Umgang mit Menschen (Zweiter Teil, Kapitel 3): Die Ehe ist in seinen Augen eine Beziehung der freien Wahl, zu der junge Menschen zwar mangels Erfahrung weniger gut gerüstet seien, aber eher fähig, sich einander anzupassen. Der Mann bleibt fraglos das »Haupt«, schwerer als die bloße Pflichterfüllung wiegt jetzt jedoch die Idee des Lustgewinns: Das »Glück der Ehe« bestehe darin, sich wechselseitig »das Leben süß und leicht zu machen«. Unterschiede in Temperament, Neigung, Denkweise, Fähigkeit und Geschmack könnten, wenn sie nicht allzu groß würden, sogar »mehr Glück gewähren«.
    Um im alltäglichen Umgang nicht gleichgültig gegeneinander zu werden, sei es wichtig, immer neue Mittel gegen »Ekel und Abneigung« zu erfinden, bei aller Vertraulichkeit auch die Höflichkeit nicht zu vergessen und sich äußerlich nicht gehen zu lassen, ja, alles zu vermeiden, was den Anderen »zurückscheuchen könnte«. Nie solle man sich auf das Versprechen am Altar verlassen, vielmehr sich Achtung und Zuneigung des Anderen immer neu verdienen, am besten dadurch, »dass Du alle Kräfte aufbietest, besser zu sein als andre!« ( sic! ). Neuen Reiz erhält die Gemeinsamkeit durch »kleine Abwesenheiten, Reisen in Geschäften und dergleichen«. Zartfühlend sprichtKnigge das Problem an, dass einer in der Ehe manchmal »die Vorzüge andrer Leute sehr lebhaft fühlen« könne. Die Versuchung sei groß, die Rückkehr früher oder später jedoch »süß«. Auch das Respektieren von Geheimnissen gehöre zur guten Ehe, statt dem je Anderen misstrauisch hinterherzuforschen. Freundschaften sollten nach der Eheschließung weiter bestehen: Nichts sei »läppischer«, meint Knigge, als wenn Eheleute glaubten, nur noch füreinander da sein zu dürfen und für Freunde »tot« sein zu müssen. Sollten Schwierigkeiten entstehen, sind Freunde wichtig, um bei ihnen neue Kraft sammeln zu können. Um welche Freunde es sich dabei handle, müsse jedem selbst überlassen bleiben.
    Parallel zu diesen Gedanken entwickeln junge Menschen zudem die romantische Idee der Ehe . Die Frühromantiker verabscheuen die lieblose Vernunftehe nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Was Friedrich Schlegel im Roman Lucinde von 1799 entwirft, verwirklicht er selbst in der neuen Form einer wilden Ehe, einer Ehe ohne Trauschein, mit der noch anderweitig verheirateten Dorothea Veit, Tochter von Fromet und Moses Mendelssohn. Das ist nun endlich eine Beziehung wie ein Sommernachtstraum – dieses Stück William Shakespeares verehren die Romantiker nicht von ungefähr am meisten. Um der bürgerlichen Vernunftehe zu widersprechen, gehen Bettine Brentano und Achim von Arnim eine romantische Liebesehe ein, die sie auch formell besiegeln.
    Historisch gesehen handelt es sich hier im Wortsinne um eine Perversion , eine Verkehrung der Verhältnisse: Gefühlt wurde traditionell außerehelich, allenfalls in Ausnahmefällen wurde den Gefühlen, erst recht den leidenschaftlichen Gefühlen, die eheliche Bindung anvertraut. In Gefühlen den wichtigsten Grund für ein gemeinsames Leben zu sehen, avanciert imLaufe der Moderne jedoch zum Inbegriff der Ehe mit und ohne Trauschein, ein Experiment mit Folgen: »Wo die Ehe sich wandelt, wo aus der Arbeitsgemeinschaft die Gefühlsgemeinschaft entsteht, da werden die Gefühle zur Arbeit« (Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe , 1990, 132). Und wo die Gefühle so grundlegend sind, wird ihr Schwinden zum Anlass für die Auflösung der Beziehung. Arien von Treueschwüren lösen sich fortan mit Orgien von Enttäuschungen ab, und glühend wie der Glaube an die Liebe lodert der Hass auf, wenn sie zerbricht. Bestand die Tragik der Ehe einst darin, dass nicht zueinander durfte, was zueinander gehörte, so nun darin, dass die, die zueinander gehören, es im praktischen Leben nicht miteinander aushalten. Da sie die Beziehung selbst wählten, müssen sie aber die Folgen, die einst dem Schicksal, den Eltern und Gott zuzuschreiben waren, auch selbst verantworten.
    Die romantische Idee der Ehe, die auf eine Gefühlsbindung setzt, steht in scharfem Kontrast
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