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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Autoren: Deuticke
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Atem hören. Was bedeutet: Ich kann mich hören. Da sind keine Stimmen. Seine nicht, die von Dr. R nicht. Keine Internet-Spinner. Nicht einmal meine Mum.
    Ich verlasse das Badezimmer.
    Ich setze die Kopfhörer auf.
    Ich fahre mit der 1 zur Staten Island Ferry.
    Ich nehme die Fähre, weil ich es noch nie gemacht habe. Der Himmel ist offen und weit, es ist frisch, aber sonnig, der typische, blaue Himmel von NYC . Ich höre The Velvet Underground
Pale Blue Eyes
singen, und weil es in meinem Leben niemanden mit blassblauen Augen gibt, muss der Himmel für die Dauer des Songs als meine Muse herhalten.
    Das Deck ist offen. Es ist niemand da außer mir. Ich tanze allein zur Musik. Ich bin die Gypsy-Frau. Ich bin das Baby Emma von Jeffrey und Judy. Ich bin Lisas Schwester. Ich bin die Mutter eines sechsjährigen Maori-Kinds. Ich bin Patientin in einer psychiatrischen Abteilung. Ich bin das Mädchen, das Chips futtert, um die anderen Chips runterzuwürgen. Ich bin das Mädchen auf dem Gemälde. Ich bin verzweifelt. Ich bin beschwingt. Ich bin Jane Eyre – ich habe ihn vor sich selbst gerettet. Letztendlich habe ich ihn befreit! – bis eine neue Jane Eyre kommt und ich Mrs Rochester bin. Ich habe in dem Haus gewohnt. Ich habe in der Dachkammer gewohnt. Ich bin das lose Ende einer Schnur mit dem Gordischen Knoten, der nicht gelöst werden kann. Ich habe mich nicht erhängt. Es tut mir nicht leid.
    Einiges erinnert an Israeli-Folk, anderes eher an Bauchtanz, den ich in Istanbul gelernt habe, und meine Füße tanzen einen kleinen Flamenco. Ich tanze, was das Zeug hält, ich wirble über das gesamte Deck. Ich kann tun, was ich will, weil ich ganz allein bin.
    Die Fähre biegt um die Ecke, und beim Anblick der Freiheitsstatue möchte ich aufspringen und jubeln – ich war schon immer so fasziniert von weiblicher Schönheit. Einmal habe ich Debbie Harry im Wartezimmer eines Arztes gesehen und »Hurra!« gerufen. Kein Wunder, dass das Symbol für Freiheit und Hoffnung eine Frau ist! Ein kleiner Junge wird wütend, als er erfährt, dass er nicht hineingehen darf. »Nur anschauen? Das ist alles? Man kann gar nichts mit ihr machen? Sie nur
anschauen

    Obdachlose fahren gern auf dieser Fähre, weil sie kostenlos ist; ich entdecke einen Zettel, auf dem »Sind Sie bipolar?« steht, etliche Symptome sind aufgeführt. Oben an der Treppe steht, wie eine hochkarätige Werbekampagne, die Neugier erweckt, ein Mann, der entweder bipolar oder total fertig ist, doch das macht mir keine Angst. Was Dr. R wohl getan hätte, was hätte er in ihm und in dieser Situation gesehen? Eine Frau, die an der Reling lehnt, stößt mir aus Versehen einen Arm in die Rippen, weil sie gerade geküsst wird. Egal, was aus diesem Liebespaar werden wird, die junge Frau wird sich immer an diesen Moment erinnern, und es mag wehtun, vielleicht eine ganze Weile, doch dann, eines Tages, wird sie sich an den Himmel und den Kuss erinnern, und daran, dass sie im langen Schatten der Freiheitsstatue geliebt wurde.
    Endlich habe ich es kapiert. Eigentlich ist es ganz einfach:
    Das war nicht mein Baby. Das war nicht mein Ehemann.
    Irgendwann wird es einen geben.
Er
war es nicht.
    Ophelia schaut in den blauen Himmel hinauf und wird von einer Stelle kalten Wassers zu einer Stelle getragen, wo das Wasser viel wärmer ist. Da passiert etwas Ungewöhnliches. Sie bewegt ihre Arme wie beim Rückenschwimmen. Es ist ein sonniger Tag, und im Geiste hört sie Mavis Staples
Eyes on the Prize
singen, was besser zu The Velvet Underground passt, als man annehmen würde. Wohin Ophelia auch schaut, überall sieht sie
prizes
– Belohnungen. Die Blumen, die Art, wie sich die Sonne in den Booten spiegelt, sogar Menschen, die ihr zuwinken. Sie weiß nicht, wohin sie zuerst schauen soll, aber sie empfindet es als großes Geschenk.
    Ich kann sie vom Oberdeck der Fähre aus sehen. Das Wasser ist angenehm. Sie dreht sich auf den Bauch und schwimmt, ohne lange zu überlegen, auf das Ufer zu, wo die riesige grüne Statue steht, einen Arm hoch erhoben.
    Und darunter, winzig, aber unverkennbar, steht ein jüdischer Mann mittleren Alters, der seinen Gürtel viel zu hoch trägt. Er ist nicht der erste Jude auf Ellis Island, aber vielleicht der klügste, vielleicht der freundlichste, vielleicht – nur vielleicht – der Mensch, der die meisten Leben verändert hat. Als sie an Land steigt, ist er nicht mehr da, doch sie richtet sich trotzdem auf. Sie ist stärker, als alle vermutet hätten. Ihr nasses Kleid
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