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Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Titel: Deine Lippen, so kalt (German Edition)
Autoren: Amy Garvey
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    Meine Mum ist gut darin, allein das zu sehen, was sie sehen will. Ob es um Männer geht, ihren Frisörsalon, der sich nur ab und zu in die Gewinnzone verirrt, oder um den Zustand unseres Hauses, von dem sie beschlossen hat, dass es Charakter habe, da das besser klingt als reif für den Abriss . In diesem Moment bin ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht darüber nachdenken will, warum ich heute Abend das Haus verlassen haben könnte. Dabei ist mir klar, sie weiß, dass es so ist. Sie geht den Dingen die meiste Zeit über lieber nicht auf den Grund, aber sie ist nicht dumm.
    »Möchtest du auch eine Tasse?«, fragt sie so plötzlich, dass ich erschrocken zusammenzucke. Sie sieht mich jetzt sehr direkt an, und mein Herz pocht viel zu laut, ein gleichmäßiges Bumm-Bumm wie von einer Basstrommel unter meinem T-Shirt und dem schwarzen Kapuzensweatshirt. Sie stellt den Kessel auf die Kochstelle, und die Flämmchen flackern schon, ehe sie den Herdknopf überhaupt berührt hat, was ein ganz schlechtes Zeichen ist. Mom lässt mich normalerweise nicht sehen, wie sie solche Dinge macht.
    »Nein, danke«, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest klingen zu lassen. Tee bedeutet, in der Dunkelheit zusammen am Küchentisch zu sitzen und zu reden, und das kann ich an diesem Abend einfach nicht. Ich kann es überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht mit Mom, denn wenn sie will, gibt es da eine gewisse Person, in deren Innerstes sie ungehindert blicken kann, bis auf Blut und Knochen, und diese Person bin ich. »Ich schätze, ich gehe mal besser ins Bett. Wir schreiben morgen einen Test in Chemie.«
    Da sind bloß das blasse Mondlicht, das durch das Fenster über der Spüle fällt, und der schwache gelbe Schimmer eines Nachtlichtes an der Wand hinter mir, aber in Moms Augen lese ich dennoch, wie verraten sie sich fühlt. Sie weiß, dass ich lüge, nicht, was den Test oder den Tee angeht, aber wegen irgendetwas.
    Die blauen Flämmchen, die am verrußten Boden des Kessels lecken, züngeln höher, nur eine Sekunde, hungrig und heiß, dann wendet sie den Blick ab, um einen Becher aus dem Schrank zu nehmen. »Ist gut, Schatz. Schlaf gut.«
    Ich achte darauf, die Tür von meinem Zimmer nicht zuzuknallen, aber als ich drinnen bin, erlaube ich dem unwilligen Summen, das wie ein Schwarm Hornissen direkt unter meiner Haut sitzt, sich als kurzer Energiestoß zu entladen und einen Bücherstapel von meinem Schreibtisch zu fegen. Grundlagen der Chemie erwischt es am heftigsten, es landet mit dem Buchrücken nach oben aufgeschlagen auf dem Boden. Etliche Seiten sind zerknittert und ich starre es eine Minute lang an. Ich keuche, mein Herz stolpert wie verrückt und anstatt das Buch aufzuheben, gehe ich um es herum und lasse mich auf mein Bett fallen, das ein Knäuel aus Laken, blaugestreifter Bettdecke und Klamotten ist.
    Von der anderen Seite des Raumes lächelt Danny aus einem gerahmten Bild auf meiner Kommode auf mich herunter. An dem Tag war er extrem albern. Wir saßen alle auf Beckers Veranda, Danny schnitt Grimassen vor Ryans Kamera, stahl Ryans Baseballkappe und verdrehte die Augen, während er gleichzeitig die Verandaschaukel mit seinem langen, nackten Fuß anstieß.
    »Mach lieber ein Foto von Wren, du Loser«, sagte er und warf Ryan quer über die Veranda eine Brezel an den Kopf, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. »Sie ist die Einzige hier, deren Anblick sich lohnt.«
    Auf dem Bild, das Ryan mir eine Woche später ausdruckte, ist Dannys Mund auf der einen Seite zu dem kleinen Lächeln hochgezogen, das nur für mich bestimmt war. Sein ganzes Gesicht wurde weich, wenn er so lächelte, als sei ihm gerade dieses unglaubliche Geheimnis eingefallen.
    An manchen Tagen kann ich seinen Anblick nicht ertragen. Der Bilderrahmen liegt meistens in der untersten Schublade bei meinen Jeans vergraben, denn es ist das gleiche Lächeln, das Danny mir jedes Mal schenkt, wenn ich zu ihm auf den Garagenboden klettere. Als wäre alles wie früher. Als wäre ich sein Geheimnis und als gäbe es nichts Schöneres für ihn als mein Gesicht.
    Manchmal, wenn er sich aufrichtet, um mich anzusehen, oder wenn ich in mein Zimmer komme und mein Blick auf das Bild fällt, bin ich kurz davor, loszuschreien. Zu schreien und zu schreien, bis mein Hals zerfetzt ist und jedes Fenster zerschmettert und das Zimmer in Flammen aufgeht.
    Ich habe bisher nur einmal etwas brennen lassen. Es war eins von Dannys T-Shirts, ein uraltes graues Clash-Shirt, das seine Schwester
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