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Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Titel: Deine Lippen, so kalt (German Edition)
Autoren: Amy Garvey
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auf den neonpinken Riemen eines ihrer Rucksäcke, als ich die Stufen zum Eingang hinauflaufe.
    Drinnen angekommen, steuere ich sofort auf die 130er-Magazine zu. In diesem speziellen Gang ist nie jemand. Ich schätze, niemand interessiert sich heutzutage mehr ernsthaft für Metaphysik oder Philosophie – wer weiß, ob es in dieser Stadt überhaupt je der Fall war. Ich habe noch immer keinen Schimmer, wer beschlossen hat, das Paranormale gehöre zwischen diese beiden Rubriken, aber egal. Darum geht es mir, um Informationen über das Paranormale, Betonung auf Para . Ich wusste schon immer, dass ich nicht ganz normal war, aber es ist ein bisschen unheimlich, es schwarz auf weiß vor sich zu sehen, versteht ihr?
    Ich frage mich oft, welcher Teil von mir ihre Tests bestehen würde.
    In den Regalen findet sich nichts Neues und eine Minute lang stehe ich einfach nur da, mit dem schweren Rucksack über einer Schulter, während mir der staubige Geruch ungelesener, in Plastik eingeschlagener Bücher in die Nase steigt. Auf der anderen Seite des Ganges lümmeln sich drei Jungs aus der Mittelstufe an einem Tisch. Sie blättern durch alte Ausgaben von Maxim und in der Kinderabteilung beginnt gerade die Vorlesestunde. Ich kann hören, wie Mrs Hodge die Kinder auffordert, leise zu sein. Es ist überwiegend ruhig und ein bisschen zu warm und so überwältigend normal, dass ich schreien möchte.
    Wie soll ich hier herausfinden, was ich wegen Danny machen soll? Die Bücher auf den Regalbrettern beschäftigen sich hauptsächlich mit den Hexenprozessen von Salem und nicht mit etwas Praktischem, abgesehen von ein paar Büchern über den Wicca-Kult, die aber hauptsächlich darauf eingehen, wie man einer Göttin huldigt, und nicht, wie man verhindert, Glühbirnen zu sprengen. Und überhaupt habe ich Bücher zu Hause, die sehr viel detaillierter über Zaubersprüche und Hexenkunst Auskunft geben, auch wenn sie mir nicht sagen, warum ich tun kann, was ich tue, oder wie ich meine Kräfte besser in den Griff bekomme.
    Oder dass ich von gewissen Dingen besser die Finger lassen sollte, selbst wenn es einen Spruch dafür gibt.
    Ich weiß noch nicht mal, ob es ein Wort für das gibt, was die Frauen in meiner Familie sind. Vor ungefähr einem Jahr habe ich Tante Mari danach gefragt.
    »Du weißt doch, dass Elektrizität überall auf der Welt natürlich vorkommt, oder?«, sagte sie. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, als stünden die Antworten dort oben in die angegraute cremeweiße Farbe geschrieben. »Aber um etwas damit anzufangen, muss man wissen, wie man sie nutzbar macht. Damit lässt es sich vergleichen. Was wir sind. Was wir tun können. So wie ein musikalisches Genie im Alter von drei Jahren Mozart spielen kann oder sonst was, sind wir in der Lage, uns einer Energie zu bedienen, zu der andere Menschen keinen Zugang haben. Das ist alles.«
    Das ist alles. Als wäre es keine große Sache, dass meine Mutter die Blumen wachsen lässt und Mari ihre Haarfarbe allein durch die Kraft ihres Willens ändert und ich (beinah) über der Erde schweben und Dinge in Brand setzen kann. Und, ihr wisst schon, meinen Freund von den Toten auferstehen lassen.
    Mari ist praktisch auf und ab gesprungen, als sie zum ersten Mal gesehen hat, wie ich meinen alten Stoffpinguin tanzen ließ – als wäre das so eine wahnsinnig tolle Leistung. Aber ich habe ihr nie erzählt, dass ich irgendwann angefangen habe, ernsthaft mit meinen Kräften zu experimentieren. Das Ganze war dermaßen verbotenes Terrain, dass ich das Gefühl hatte, es sei die eine Sache, die ich selbst vor Tante Mari verbergen müsste. Und ich probierte Dinge aus, die ein wenig komplizierter waren, als einen Stift auf meinem Schreibtisch kreiseln zu lassen oder hellgelbe Narzissen rosarot zu färben.
    Einmal ließ ich es in Robins Zimmer regnen, direkt über einem Haufen dreckiger Sweatshirts und Socken. Ein andermal faltete ich ein liniertes weißes Blatt zu einem Vogel und erweckte ihn zum Leben. Als es klappte, war der Schock so groß, dass ich das Fenster öffnete und das panisch herumflatternde Tier davonfliegen ließ.
    Man sollte meinen, ich hätte meine Lektion gelernt.
    Ich kann Tante Mari nicht von Danny erzählen. Ich kann niemandem von ihm erzählen.
    Als ich jetzt in der Bücherei stehe, sehe ich ihn vor mir, wie er entschlossen das Kinn vorreckt und die ersten Treppenstufen nimmt. Mein Puls beschleunigt sich so ruckartig, dass ein einzelnes Buch vom Rand des Regals auf den
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