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Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Titel: Deine Lippen, so kalt (German Edition)
Autoren: Amy Garvey
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mit vor der Brust verschränkten Armen an meinem Spind auf mich. Ihr dunkelblondes Haar hat sie hochgedreht und am Hinterkopf mit einer Spange befestigt, ihr Kinn ist entschlossen vorgereckt. Ich dachte, ich hätte lange genug gewartet, um weder Darcia noch ihr über den Weg zu laufen, aber ich habe nicht bedacht, dass Jess geradezu beängstigend ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. An ihrem ersten Tag an unserer Schule hat sie Billy Lanigan geschubst, weil er mir meine Butterbrotdose aus der Hand geschlagen hatte, und da waren wir in der dritten Klasse. Billy war doppelt so groß wie sie.
    »Machst du gerade eine Eremitenphase durch, von der ich nichts weiß?«, sagt sie, ohne sich groß mit einem Hallo aufzuhalten. »Denn langsam ist es echt nicht mehr lustig.«
    Ich nestle an meinem Spindschloss herum und starre stur geradeaus. Was soll ich darauf antworten? Es tut mir leid? Schon wieder?
    »Ich wüsste nicht, dass ich dich gefragt hätte, was du davon hältst«, sage ich. Es klingt laut ausgesprochen viel schlimmer als in der Millisekunde, ehe es meinen Mund verlassen hat, und Jess blinzelt irritiert.
    »Was ist bloß los mit dir, Wren? Was haben wir dir getan? Ach, scheiß drauf, was hat Darcia getan? Denn ich weiß, ich habe nichts getan, wofür ich so eine Abfuhr verdient hätte.«
    Als ich sie ansehe, muss ich schlucken. Sie ist außer sich, ihre Wangen leuchten knallrot und in ihren Augen stehen Tränen. Irgendetwas läuft hier schrecklich falsch. Jess weint nie. Jess wird bloß stinkwütend.
    Vor Überraschung lasse ich mein Französischbuch fallen und es knallt zwischen ihren glänzenden schwarzen Lederstiefeln und meinen lilafarbenen Chucks auf den Boden. Einen Moment starre ich es wie betäubt an – das Summen ist zurück, ein aufgeregter, surrender Schwarm direkt unter meiner Haut, und ich habe Angst, was passieren wird, wenn ich mich bewege, wenn ich spreche.
    »Na schön«, unterbricht Jess kurz darauf das Schweigen und stößt etwas aus, das zu rau und hässlich klingt, um ein Lachen zu sein. »Was immer, Wren. Bloß … rede mit Darcia, okay? Du fehlst ihr.«
    Sie geht davon, ihre Absätze klackern wütend über das schäbige Linoleum, und eine Sekunde lang stehe ich wie angewurzelt da, starre mein Französischbuch an und lausche dem Geräusch ihrer Schritte.
    Ich könnte ihr nachlaufen. Ich könnte meinen Rucksack auf den Boden rasseln lassen und den Flur entlangwetzen, um sie noch einzuholen. Ich könnte ihr sagen, dass es mir leid tut. Ich könnte ihr sagen, dass ich sie und Darcia auch vermisse. Ich könnte ihr sagen, dass ich blöd bin und schrecklich und zum Kotzen.
    Es wäre alles wahr.
    Aber ich kann ihr nicht sagen, dass mein toter Freund in der Nachbarsgarage lebt. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich anfange, mich zu fragen, was aus ihm wird und was aus mir. Er kann nicht für immer dort leben. Fakt ist, er lebt überhaupt nicht.
    Auch das wäre alles wahr, und mir wird plötzlich speiübel, mein Magen ballt sich zu einer Faust. Ich habe Danny zurückgeholt, weil ich es nicht ertragen konnte, noch jemanden zu verlieren, nicht, wo Dad fort war und Gram tot und Tante Mari jemand, den ich heimlich besuchen musste. Und jetzt verliere ich auch noch Jess und Darcia.
    Ich rutsche auf den Boden und sitze mit dem Rücken an die Spinde gepresst da. Der Boden riecht nach altem Zitronenwachs und Staub und Füßen, aber ich bleibe dort sitzen, bis Mrs Griffith vorbei kommt und stehen bleibt, um mich zu fragen, was los ist.
    Zu diesem Zeitpunkt ist Jess lange fort.
    Es ist bereits vier, als ich endlich aufbreche, und obwohl ich regelrecht vor mir sehe, wie Danny inzwischen über der Garage hin- und hertigert – oder noch schlimmer, völlig reglos neben der Treppe sitzt, die Augen auf die unterste Stufe gerichtet, und auf mich wartet –, gehe ich in die Stadt zur Bücherei.
    Es ist kalt und grau draußen, und totes Laub wirbelt in kleinen rostfarbenen Wolken um meine Füße, während ich den Weg zum Gebäude entlangschlurfe. Ein paar Cheerleaderinnen, Seniors, hocken auf dem Geländer, das die Stufen säumt, stoßen Rauchkringel aus und lachen. Sie ignorieren mich wie üblich, womit ich bisher nie ein Problem hatte.
    Zum ersten Mal jedoch bin ich versucht, mich umzudrehen und mich zu konzentrieren. Was immer auch in mir stecken mag, zu einer dichten, glühenden Kugel zusammenzuballen und ihnen ein fieses, kleines Küsschen hinzuhauchen, das sie umwerfen würde. Stattdessen trete ich nur
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