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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod
Autoren: Gunnar Staalesen
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gaben unter ihm nach und dann – dann fiel er.«
    Sie starrte schwarz vor sich hin. »Er blieb – liegen. Ich – ich ging einfach an ihm vorbei, zur Tür, öffnete sie und ging raus. Ich weiß noch, dass ich um Hilfe rief. Und dann weiß ich nicht mehr, was passiert ist, ich glaube, ich wurde ohnmächtig. Ich weiß nicht, wie gelähmt ich war, als ihr kamt, zuerst Varg und dann …« Ihre Stimme erstarb. Den Rest kannten wir. Den Rest wussten wir.
    »So schnell geht das«, sagte sie, »ein Leben zu beenden. In null Komma nichts. Meines und Gunnars auch.«
    »Und Roars«, sagte ich.
    »Ja, Roar«, sagte sie matt, als sei es der Name eines entfernten Verwandten, eines Menschen, den sie einmal gekannt hatte, vor langer, langer Zeit.
    Wir blieben stumm sitzen.
    Eine Weile später streckte Hamre die Hand aus und schaltete den Kassettenrecorder aus. Es wurde ganz still im Raum.
    Dann stand Smith schwerfällig auf. »Eine glänzende Arbeit für die Verteidigung, Veum«, sagte er mit bleischwerem Sarkasmus.
    Hamre und ich erhoben uns ungefähr gleichzeitig. Wir blieben stehen und sahen auf Wenche Andresen hinunter. Ich sagte zu Hamre: »Kann ich ein paar Minuten – mit ihr allein sein?«
    Er sah mich mit unbewegter Miene an. »Du kannst wohl nicht viel mehr Schaden anrichten, als du schon getan hast«, sagte er, nickte und verließ zusammen mit Smith den Raum.
    Die Frau an der Tür blieb sitzen, aber ich ignorierte sie. Sie war ein Teil des Inventars.
    Ich trat zwei Schritte auf Wenche Andresen zu, stützte die Fäuste schwer auf die Tischplatte und beugte mich über sie. Sie hob ihr Gesicht zu mir, sah mich an, mit denselben Augen und demselben Mund. Aber ich würde sie nie mehr küssen. Das wusste ich jetzt. Ich würde sie nie mehr küssen.
    Ich sagte: »Tut mir Leid, Wenche. Aber ich musste es sagen. Es ging nicht anders. Ich habe an dich geglaubt, die ganze Zeit. Ich war sicher, dass du unschuldig warst, dass du es nicht getan hattest. Aber als mir am Ende aufging – als du mich belogen hast, und ich endlich begriff – da musste ich es sagen. Ich hoffe, du verstehst das.«
    Sie nickte stumm.
    »Ich – ich war wirklich froh, dir begegnet zu sein. Dir und Roar. Ich – die beiden Abende bei dir – ich habe mich – es ist lange her, dass ich mich so wohl und entspannt gefühlt habe, wie nach unseren Gesprächen. Unter anderen Umständen – wer weiß? Vielleicht hätten wir – zueinander finden können. Vielleicht hätten wir einander – Trost geben können.«
    Sie sah mich stumm an.
    »Aber jetzt ist es zu spät, Wenche. Viel zu spät.«
    Sie sagte: »Es tut mir Leid, Varg … Das wollte ich nicht.«
    Ich sah auf sie hinunter, nahm für ein hoffentlich letztes Mal ihr Gesicht in mir auf. Ihre Augen, ihre Lippen, die gespannte Haut, den gequälten Gesichtsausdruck.
    Und ich dachte an Roar. Ich dachte an den Vater, den sie ihm genommen hatte, und dass sie dabei war, ihm auch die Mutter zu nehmen.
    Was würde mit ihm geschehen? Was würde mit ihr geschehen? Wo würden wir alle in fünf Jahren sein? Und in zehn? Das waren zu viele Fragen, und man hatte nur ein Leben, um sie zu beantworten. Nur ein einziges Leben, und das kann so plötzlich enden. Im einen Augenblick hat man es noch in der Hand. Im nächsten hat es dir jemand entrissen, und du liegst auf dem Gehsteig und schaust ihm hinterher.
    Ich richtete mich auf, blieb an der Tischkante stehen und hörte meine Stimme sagen: »Wir haben eine Verabredung, schreib es dir auf, um sechs Uhr abends, heute in tausend Jahren.«
    Sie schaute mich verständnislos an. »Wie meinst du das?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Hab ich nur irgendwo mal gelesen.« Dann drehte ich mich um und verließ schnell den Raum, ohne die Tür hinter mir zu schließen und ohne mich umzusehen.
    Draußen stand Hamre und wartete auf mich. »Smitti ist schon gegangen. Ich glaube, er erträgt deinen Anblick heute Abend nicht mehr«, sagte er. »Ich kann ihn verstehen.«
    Ich sah ihn an.
    Die Ungeduld war jetzt in seinen Augen angekommen, als er sagte: »Was glaubst du eigentlich erreicht zu haben?«
    Ich sagte: »Was heißt schon erreicht.«
    »Wir sitzen hier mit genau derselben Mörderin. Wir haben genau dieselbe Antwort, die ich dir schon letzten Freitag gegeben habe. Der einzige Unterschied ist, dass in der Zwischenzeit ein Mann einen Jungen ermordet hat.«
    »Es ist vielleicht dieselbe Antwort«, versuchte ich hilflos. »Aber die Wahrheit hat immer mehrere Seiten. Ich habe in der
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