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Davids letzter Film

Davids letzter Film

Titel: Davids letzter Film
Autoren: Jonas Winner
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plötzlich an ihren Wimpern. Sie kämpft gegen den Griff an, mit dem die Mutter sie vor sich festhält, sie will nicht
     ausgefragt werden, sie will umarmt werden   … windet sich endlich los, stürzt zurück an den Hals der Mutter, das Gesicht daran schmiegend.
    Da nimmt Christine aus dem Augenwinkel einen Geländewagen wahr, der die Straße heruntergerast kommt, auf ihr Haus zu. Hannes.
     Er ist ganz in der Nähe gewesen. Christine löst eine Hand vom Rücken der Tochter, winkt dem Wagen zu. Er kommt am Bürgersteig
     der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen, die Fahrertür springt auf, Hannes taucht auf. Sein Blick trifft den seiner
     Frau.
    Christine lächelt, die Tränen verwischen ihr die Sicht. Maja ist da. Sie wird sie niemals wieder aus den Armen lassen. Nichts
     wird sich zwischen sie drängen können, nichts und niemand sie auseinanderreißen.
    Es ist der vielleicht schönste Augenblick in Christines Leben. Sie sieht Hannes die Wagentür hinter sich zuwerfen, um den
     Wagen herumgehen. Sie fühlt das Kind in ihrem Arm, spürt, wie es sich langsam wieder beruhigt, und lächelt ihrem Mann zu,
     dem die Erleichterung anzusehen ist – auch wenn die Sorgen der letzten Wochen sein Gesicht tief gezeichnet haben. Der vielleicht
     schönste Augenblick in Christines Leben, in den im selben Moment, in dem Hannes die Straße betritt, um zu ihnen zu kommen,
     mit unerbittlicher Schärfe das Entsetzen einschlägt.

1
    Der Raum ist vollständig gekachelt. Boden. Wände. Decke. In der Mitte des Fußbodens befindet sich ein Abfluss. Direkt darüber
     steht eine Pritsche mit höhenverstellbarem Kopfende, mehreren Riemen und einem Ausleger für den Arm.
    Auf der Pritsche liegt ein junger Mann. Fast noch ein Junge. Seine Augen sind tief in die Höhlen gesunken. Er blinzelt, sieht
     irritiert aus, verschreckt. Seine Gesichtszüge wirken ein wenig grobschlächtig. Die Stirn ist niedrig, der Mund breit.
    Der Mann, der vor ihm steht, trägt einen weißen Kittel und sieht aus wie ein Arzt. Er ist blond, die Brille auf seiner Nase
     randlos. Seine Hände, lang und schmal, überprüfen die Riemen. Sie sitzen fest am Körper des Jungen. Der Mann sieht dem Jungen
     in die Augen. Will er eine Spritze?
    Der Junge nickt. Er zuckt nur kurz, als der Arzt ihm die Nadel in den Arm sticht, beobachtet, wie sein Betreuer die Flüssigkeit
     aus der Kanüle drückt. Sein hastiges Atmen verlangsamt sich. Die Muskeln erschlaffen, er legt den Kopf zurück auf die Pritsche.
    Der Mann wendet sich einem Apparat zu, der auf einem Rolltischchen neben der Pritsche steht: ein Plastikkastenmit Anzeigen, Schaltern und Reglern. Aus dem Kasten kommen Kabel in unterschiedlichen Farben. Ihre Enden sind abisoliert und
     mit Pflastern versehen. Der Mann nimmt zwei Kabel, rollt das T-Shirt des Jungen hoch und klebt ihm die Pflaster auf die Haut. Eins unter die linke Brustwarze. Das andere mitten auf den Bauch.
     Der Junge versucht etwas zu sagen, aber die Worte kommen nur unverständlich aus seinem Mund.
    Der Arzt zieht die Augenbrauen hoch. »Bitte?«
    Der Junge bemüht sich, die Worte richtig zu formen. Aber es ist, als wäre seine Zunge festgewachsen. Speichelblasen treten
     zwischen seinen Lippen hervor.
    Der Mann lächelt. Mit der Rechten zieht er vorsichtig die Zunge des Jungen zwischen den Zähnen hindurch. Die Augen des Jungen
     glänzen feucht. Seine Brust hebt und senkt sich ruckartig. Aber er wagt es nicht, seinen Kopf dem Griff des Mannes zu entwinden.
    Der Arzt löst das Pflaster vom Bauch und fixiert es behutsam an der Zungenspitze des Jungen. Fragt ihn, ob er bereit sei.
    Der Junge starrt ihn mit aufgerissenen Augen an. Seine Zunge hängt mit dem Kabel verbunden zwischen seinen Lippen hervor.
     Er gibt keinen Laut von sich.
    Der Arzt atmet aus. Wenn er nicht kooperiere, werde doch alles nur schlimmer.
    Der Junge keucht. Schweiß tritt auf seine Stirn.
    Der Arzt lächelt. »Also?«
    Der Junge grunzt. Es klingt wie ein Ja.
    Der Arzt nickt und legt einen Schalter an seinem Kasten um. Eine Leuchtdiode glimmt auf. Hinter einem Fensterchen klettert
     eine Nadel auf null.
    Dann löst er den Stromstoß aus. Es knallt wie ein Schuss. Ein rauer Aufschrei entwindet sich der Kehle des Jungen. Seine Muskeln
     versteinern, sein Körper wird hart gegen die Riemen gepresst. Aber sie lassen dem Krampf keinen Spielraum.
    Der Arzt verzieht das Gesicht. Er kann sich den Schmerz, den er zufügt, kaum vorstellen. Wieder betätigt er den Schalter.
     Der Körper
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