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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie
Autoren: Unbekannt
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auf meine Straße gefallen war, und welcher siebzehnjährige russische Junge würde sich nicht nach draußen schleichen, um einen Blick auf einen toten Faschisten zu werfen?
    Mein Kinn war schon gleichauf mit der Oberkante des Tors, als sich behandschuhte Hände um meine Beine legten. Kräftige Hände, die Hände von Militärangehörigen, die täglich zwei Mahlzeiten bekamen. Ich sah, wie Vera ins Kirow rannte, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich versuchte mich an den Eisenstangen festzuklammern, doch die Soldaten zerrten mich herunter, warfen mich auf den Bürgersteig und umstellten mich, die Mündungen ihrer Tokarews auf meine Wangen gerichtet. Keiner der Soldaten sah älter als neunzehn aus und keiner schien abgeneigt, mein Gehirn auf die Straße zu pusten.
    »Scheißt sich ja gleich voll, der Kerl.«
    »Bisschen gefeiert, Freundchen? Euch Schnaps besorgt?«
    »Der ist was für den Oberst. Soll sich zu dem Fritz setzen.«
    Zwei von ihnen bückten sich, packten mich unter den Achseln, rissen mich auf die Füße, führten mich zu dem GAZ, dessen Motor noch lief, und stießen mich auf den Rücksitz. Die beiden anderen Soldaten packten den Deutschen bei den Händen und den Füßen und warfen ihn neben mich in den Wagen.
    »Damit er nicht friert«, sagte einer von ihnen, und alle lachten, als wäre das der beste Witz aller Zeiten. Sie zwängten sich in den Wagen und schlugen die Türen zu.
    Ich kam zu dem Schluss, dass ich nur deshalb noch am Leben war, weil sie mich öffentlich exekutieren wollten, als abschreckendes Beispiel für andere Plünderer. Noch vor wenigen Minuten hatte ich mich dem toten Flieger überlegen gefühlt. Doch jetzt, als wir durch die dunkle Straße rasten, ruckartig Bombenkratern und Trümmern auswichen, schien er mich anzugrinsen, die weißen Lippen wie eine Wunde, die sein erstarrtes Gesicht zerschnitt. Wir gingen beide den gleichen Weg.
    2
    Wenn man in Piter aufwuchs, wuchs man in Angst vor dem Kresty-Gefängnis auf, dem düsteren Backsteinklotz an der Newa, einem bedrohlichen, barbarischen Aufbewahrungsort für Verlorene. In Friedenszeiten lebten hier sechstausend Gefangene. Ich bezweifle, dass im Januar noch tausend davon übrig waren. Hunderte von inhaftierten Kleinkriminellen wurden in Einheiten der Roten Armee entlassen, entlassen in die Hölle des deutschen Blitzkrieges. Weitere Hunderte verhungerten in ihren Zellen. Jeden Tag zerrten die Wärter die bis auf die Knochen Abgemagerten aus dem Bau und auf Schlitten, wo die Toten in acht Lagen übereinander aufgestapelt wurden.
    Als ich klein war, war es die Stille des Gefängnisses, die mir am meisten Angst machte. Wenn man vorbeiging, erwartete man, das Gebrüll roher Männer oder den Lärm eines Streits zu hören, doch kein Geräusch drang durch die dicken Mauern, als hätten die Gefangenen drinnen - die zumeist auf ihren Prozess oder den Transport in den Gulag oder eine Kugel in den Kopf warteten - sich selbst die Zunge abgehackt, um gegen ihr Los zu protestieren. Der Ort war eine Festung im umgekehrten Sinn, dazu bestimmt, den Feindinnen festzuhalten, und jeder Junge in Leningrad hatte hundert Mal den Satz gehört: »Wenn du so weitermachst, landest du im Kresty.«
    Ich hatte meine Zelle nur einen Moment lang gesehen, als die Wärter mich hineinstießen und ihre Lampen kurz die rauen Steinwände beschienen, eine Zelle, zwei Meter breit und vier Meter lang, mit Stockbetten für vier Gefangene und alle leer. Das beruhigte mich, denn ich hatte kein Verlangen danach, die Dunkelheit mit einem Fremden mit tätowierten Fingerknöcheln zu teilen, doch nach einiger Zeit - Minuten? Stunden? - wurde die schwarze Stille zu etwas Greifbarem, das in deine Lunge einzudringen und dich zu ersticken drohte.
    Dunkelheit und Einsamkeit machten mir normalerweise keine Angst. Elektrischer Strom war in Piter damals so rar wie Speck, und meine Wohnung im Kirow war leer, seit Mutter und Taissja geflüchtet waren. Die langen Nächte waren dunkel und still, aber irgendwo waren immer Geräusche zu hören. Mörser, die von den deutschen Linien abgefeuert wurden; ein Armeelaster, der durch die Straße fuhr; die im Sterben liegende alte Frau im Stockwerk über mir, die in ihrem Bett stöhnte. Schreckliche Geräusche, gewiss, aber doch Geräusche - etwas, was dir sagte, dass du noch am Leben warst. Die Zelle im Kresty war der einzige absolut stille Ort, den ich je betreten habe. Ich konnte nicht das Geringste hören; ich konnte nichts sehen. Sie hatten mich im
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