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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie
Autoren: Unbekannt
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Wartezimmer des Todes eingesperrt.
    Obwohl ich mich vor meiner Verhaftung für belagerungsgestählt hielt, war es in Wahrheit doch so, dass ich im Januar nicht mehr Courage besaß als im Juni - entgegen der weitverbreiteten Meinung macht dich die Erfahrung von Terror und Gewalt am eigenen Leib keineswegs mutiger. Vielleicht fällt es dir nur leichter, deine Angst nicht zu zeigen, wenn du ständig Angst hast.
    Ich versuchte, mich an ein Lied zu erinnern, das ich singen könnte, an ein Gedicht, das ich aufsagen könnte, doch alle Worte klebten in meinem Kopf fest wie Salz in einem verklumpten Streuer. Ich legte mich auf eine der oberen Pritschen in der Hoffnung, dass das bisschen Wärme, das irgendwo im Innern des Kresty existieren musste, sich ausbreitete und mich fand. Der Morgen verhieß nichts als eine Kugel in den Schädel, und dennoch sehnte ich mich danach, dass Tageslicht einsickerte. Als sie mich in die Zelle warfen, glaubte ich, nahe der Decke ein schmales vergittertes Fenster gesehen zu haben, konnte mich aber nicht mehr daran er innern. Ich versuchte, bis tausend zu zählen, damit die Zeit verging, verhedderte mich aber jedes Mal etwa bei vierhundert, weil ich Phantomratten hörte, die sich als meine eigenen Finger entpuppten, die an der zerschlissenen Matratze kratzten.
    Die Nacht würde niemals enden. Die Deutschen hatten die verdammte Sonne abgeschossen, die konnten das, klar doch, ihre Wissenschaftler waren die besten der Welt, die konnten das austüfteln. Die hatten herausgefunden, wie man die Zeit anhält. Ich war blind und taub. Nur die Kälte und mein Durst sagten mir, dass ich noch lebte. Mit der Zeit wirst du so einsam, dass du dich nach den Wärtern sehnst, nur um ihre Schritte zu hören, ihre Wodkafahne zu riechen.
    So viele große Russen erduldeten lange Aufenthalte im Gefängnis. In dieser Nacht erkannte ich, dass ich nie ein großer Russe sein würde. Ein paar Stunden allein in einer Zelle, von nichts anderem gepeinigt als der Dunkelheit und der Stille und der totalen Kälte, nur ein paar Stunden lang, und schon war ich seelisch fast gebrochen. Die unbeugsamen Männer, die Winter um Winter in Sibirien durchstanden, besaßen etwas, was mir fehlte, den festen Glauben an ein glorreiches Schicksal, sei es das Reich Gottes oder Gerechtigkeit oder die vage Aussicht auf Rache. Vielleicht waren sie aber auch so zermürbt, dass sie zu Tieren auf zwei Beinen wurden, auf Kommando ihrer Bewacher schufteten, jeden Fraß verschlangen, den man ihnen hinwarf, schliefen, wenn es befohlen wurde, und nur noch von einem Ende träumten.
    Endlich gab es ein Geräusch, Schritte, schwere Stiefelpaare, die durch den Korridor stapften. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Ich setzte mich im Bett auf und knallte mit dem Kopf so heftig gegen die Decke, dass ich mir in die Lippe biss.
    Zwei Wärter - der eine mit einer Öllampe in der Hand, dem lieblichsten Licht, das ich je gesehen habe, schöner als jeder Sonnenaufgang - führten einen neuen Gefangenen herein, einen jungen Soldaten in Uniform, der sich in der Zelle umsah wie jemand, der eine Wohnung inspiziert, die er zu mieten erwägt. Der Soldat war groß und hielt sich sehr aufrecht; er überragte die Wärter, und obwohl sie Pistolen in ihren Halftern hatten und der Soldat unbewaffnet war, schien er drauf und dran zu sein, Befehle zu erteilen. In der einen Hand hielt er seine Astrachanmütze und in der anderen seine Lederhandschuhe.
    Er sah mich an, gerade als die Wärter gingen, die Zellentür zuschlugen und von außen verriegelten, ihr Licht mitnahmen. Sein Gesicht war das Letzte, was ich sah, bevor wieder Dunkelheit herrschte, und blieb mir daher im Gedächtnis haften: die hohen kosakischen Wangenknochen, die amüsiert gekräuselten Lippen, das aschblonde Haar, die Augen so blau, dass sie jede arische Braut zufriedengestellt hätten.
    Ich saß auf der Pritsche , und er stand auf dem Steinfuß boden, und aufgrund der völligen Stille wusste ich, dass sich keiner von uns von der Stelle gerührt hatte - wir starrten uns noch immer in der Dunkelheit an.
    »Bist du Jude?«, fragte er.
    »Was?«
    »Ob du Jude bist. Du siehst aus wie ein Jude.« »Und du siehst aus wi e ein Na zi.«
    »Ich weiß. Ich spreche auch ein bisschen Deutsch. Ich habe mich freiwillig als Spion gemeldet, aber keiner hat mir zugehört. Bist du nun Jude?«
    »Was geht dich das an?«
    »Kein Grund, sich zu schämen. Ich habe kein Problem mit Juden. Emanuel Lasker ist mein zweitliebster
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