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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie
Autoren: Unbekannt
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die prallen grauen Fesselballons der Flugabwehr, die unter den Wolken schwärmten, und wartete auf die Bomber. Zu dieser Jahreszeit steht die Sonne nur sechs Stunden am Himmel, huscht wie ein Geist von Horizont zu Horizont. Jede Nacht saßen vier von uns ihre Drei-Stunden-Schicht auf dem Dach ab, bewaffnet mit Wassereimern, Sandkübeln, Eisenzangen und Schaufeln, eingemummt in alle Hemden und Pullover und Mäntel, die wir auftreiben konnten, und beobachteten den Himmel. Wir waren der Feuerlöschtrupp. Die Deutschen hatten entschieden, dass das Erstürmen der Stadt sie zu viele Opfer kosten würde, und so kesselten sie uns stattdessen ein, um uns auszuhungern, niederzubomben, niederzubrennen.
    Vor Kriegsbeginn lebten im Kirow elfhundert Menschen. An Silvester lag die Zahl eher bei vierhundert. Die meisten kleinen Kinder waren evakuiert worden, bevor die Deutschen den Belagerungsring im September schlossen. Meine Mutter und meine kleine Schwester Taissja gingen nach Wjasma zu meinem Onkel. Am Abend vor ihrer Abreise stritt ich mit meiner Mutter, der einzige Streit, den wir je hatten - genauer gesagt, das einzige Mal, dass ich mich ihr widersetzte. Sie wollte natürlich, dass ich mitging, weit weg von den Invasoren, tief ins Landesinnere, wo uns die Bomber nicht finden konnten. Aber ich hatte nicht vor, Piter zu verlassen. Ich war ein Mann, ich würde meine Heimatstadt verteidigen, ich würde ein Newski des zwanzigsten Jahrhunderts sein. Vielleicht war ich nicht ganz so töricht. Aber ich hatte ein stichhaltiges Argument: Wenn jede einsatzfähige Person floh, würde Leningrad von den Faschisten erobert werden. Und ohne Leningrad, ohne die Stadt der Arbeiter, die Panzer und Gewehre für die Rote Armee herstellten, welche Chance hatte Russland da?
    Meine Mutter meinte, das sei ein dummes Argument. Wie sie sagte, war ich gerade mal siebzehn. Ich schweißte keine Panzerplatten in der Fabrik zusammen und ich konnte noch fast ein Jahr lang nicht Soldat werden. Die Verteidigung Leningrads hatte nichts mit mir zu tun; ich war nur ein weiteres hungriges Maul, das durchgefüttert werden musste. Ich ignorierte diese beleidigenden Bemerkungen.
    »Ich bin Feuerwehrmann«, verkündete ich ihr, denn es war die Wahrheit, die Stadtverwaltung hatte die Schaffung von zehntausend Feuerlöschtrupps angeordnet, und ich war der stolze Kommandant des Löschtrupps Kirow Fünfter Stock.
    Meine Mutter war noch keine vierzig Jahre alt, aber ihr Haar war bereits grau. Sie saß mir gegenüber am Küchentisch und hielt mit beiden Händen meine Hand fest. Sie war eine sehr kleine Frau, gerade mal einszweiundfünfzig groß, und ich hatte von Geburt an Angst vor ihr.
    »Du bist ein Dummkopf«, verkündete sie mir. Vielleicht klingt das beleidigend, aber meine Mutter nannte mich immer »kleiner Dummkopf«, und so hielt ich die Bezeichnung mittlerweile für einen Kosenamen. »Die Stadt hat es schon vor dir gegeben. Es wird sie auch nach dir noch geben. Taissja und ich brauchen dich.«
    Sie hatte recht. Ein besserer Sohn, ein besserer Bruder wäre mitgegangen. Taissja verehrte mich, sprang an mir hoch, wenn ich aus der Schule kam, las mir die albernen Gedichtchen vor, die sie als Hausaufgabe zu Ehren der Märtyrer der Revolution schrieb, zeichnete Karikaturen meines großnasigen Profils in ihr Heft. Meistens hätte ich sie erwürgen können. Ich hatte keine Lust, mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester durch das halbe Land zu tippeln. Ich war siebzehn, beseelt von dem Glauben, vom Schicksal zu Heroischem bestimmt zu sein. Molotows Erklärung bei seiner Rundfunkansprache am ersten Tag des Krieges (WIR KÄMPFEN FÜR EINE GERECHTE SACHE. WIR WERDEN DEN FEIND SCHLAGEN. WIR WERDEN OBSIEGEN) war auf Abertausend Plakate gedruckt und überall in der Stadt an Mauern geklebt worden. Ich glaubte an unsere Sache; ich würde nicht vor dem Feind davonlaufen; ich würde den Sieg nicht verpassen.
    Mutter und Taissja brachen am nächsten Morgen auf. Sie fuhren einen Teil der Strecke mit dem Bus, hielten Armeelaster an, die sie ein Stück mitnahmen, und legten in Stiefeln mit klaffenden Sohlen schier endlose Entfernungen auf Landstraßen zurück. Sie brauchten drei Wochen, um hinzukommen, aber sie schafften es, waren endlich in Sicherheit. Meine Mutter schickte mir einen Brief, in dem sie die Reise, die Angst und die Strapazen schilderte. Vielleicht wollte sie, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich sie und Taissja im Stich gelassen hatte, und ich hatte
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