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DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie
Autoren: Unbekannt
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gemischter Gesellschaft zu sagen (das heißt, in Gesellschaft einer anderen Person als meiner Großmutter), füllte Minikassette um Minikassette mit seinen Worten. Zu vielen Worten für ein einziges Buch - die Wahrheit mag seltsamer sein als die Erfindung, aber sie braucht einen besseren Lektor. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich meinen Großvater fluchen und offen über Sex reden. Er sprach über seine Kindheit, über den Krieg, über die Ankunft in Amerika. Aber vor allem sprach er über eine Woche im Jahr 1942, die erste jenes Jahres, die Woche, in der er meiner Großmutter begegnete, seinen besten Freund gewann und zwei Deutsche tötete.
    Als er seine Geschichten zu Ende erzählt hatte, befragte ich ihn nach näheren Einzelheiten - nach Namen, Orten, den Wetterverhältnissen an bestimmten Tagen. Eine Zeit lang ging er darauf ein, doch schließlich beugte er sich vor und drückte die Stopptaste des Tonbandgeräts.
    »Das ist alles lange her«, sagte er. »Ich weiß nicht mehr, was ich anhatte. Ich weiß nicht mehr, ob die Sonne herauskam.«
    »Ich will doch nur sicherstellen, dass ich alles richtig wiedergebe.«
    »Das kannst du nicht.«
    »Es ist deine Geschichte. Ich will sie nicht verpfuschen.« »David ...«
    »Einiges kapiere ich immer noch nicht...«
    »David«, sagte er. »Du bist doch der Schriftsteller. Denk dir was aus.«
    1
    Du hast noch nie solchen Hunger gehabt; du hast noch nie so gefroren. Wenn wir schliefen, sofern wir überhaupt schliefen, träumten wir von den Leckerbissen, die wir sieben Monate zuvor gedankenlos gegessen hatten - all den Butterbroten, den Kartoffelklößen, den Würsten -, ohne Bedacht gegessen, hinuntergeschluckt hatten, ohne sie zu würdigen, und dabei auf unseren Tellern große Krümel liegen ließen, weggeschnittenes Fett. Im Juni 1941, bevor die Deutschen kamen, dachten wir, wir seien arm. Aber bis zum Winter erschien uns der Juni wie das Paradies.
    Nachts blies der Wind so laut und anhaltend, dass man erschrak, wenn er aufhörte; die Rollladenscharniere des ausgebrannten Cafes an der Ecke hörten dann einige ominöse Sekunden lang auf zu quietschen, als würde sich ein Raubtier nähern und das kleinere Wild vor Angst verstummen. Die Rollläden selbst waren im November als Brennholz herausgerissen worden. In ganz Leningrad gab es kein Kleinholz mehr. Jedes Holzschild, di e Latten der Parkbänke, die Fuß bodendielen zerstörter Gebäude - alles weg und irgendwo in einem Ofen verfeuert. Auch die Tauben fehlten, waren eingefangen und in geschmolzenem Eis aus der Newa gegart worden. Keinem machte es etwas aus, Tauben zu schlachten. Was für Unruhe sorgte, waren die Hunde und Katzen. Im Oktober hörte man gerüchteweise, jemand habe seinen Köter gebraten und daraus vier Mahlzeiten gemacht; wir lachten darüber und schüttelten den Kopf, glaubten es nicht und fragten uns doch, ob Hund mit entsprechend viel Salz gut schmeckt - damals gab es noch genügend Salz, auch wenn alles andere ausging, hatten wir doch noch Salz. Im Januar war aus den Gerüchten bereits eine schlichte Tatsache geworden. Nur Leute mit den besten Beziehungen konnten noch ein Haustier ernähren, also ernährten die Haustiere uns.
    Es gab zwei Theorien bezüglich der Dicken und der Dünnen. Die einen sagten, diejenigen, die vor dem Krieg dick waren, hätten bessere Überlebenschancen: Eine Woche ohne Nahrung verwandle einen rundlichen Menschen nicht gleich in ein Skelett. Die anderen sagten, Magere seien es eher gewohnt, wenig zu essen, und kämen daher besser mit dem plötzlichen Hungern zurecht. Ich gehörte zum zweiten Lager, und zwar aus schierem Eigennutz. Ich war von Geburt an ein Hänfling. Große Nase, schwarze Haare, von Akne verunzierte Haut - geben wir's zu, ich war nicht gerade der Traum eines jeden Mädchens. Aber der Krieg machte mich attraktiver. Andere magerten ab, als die Lebensmittelrationen wieder und wieder gekürzt wurden und Männer, die vor dem Einmarsch der Deutschen wie Schwerathleten ausgesehen hatten, auf die Hälfte zusammenschrumpfen ließen. Ich hatte keine Muskeln, die ich hätte verlieren können. So wie die Spitzmäuse, die weiter auf Nahrungssuche gingen, während um sie herum die Dinosaurier ausstarben, war ich für Entbehrungen geschaffen.
    Am Silvesterabend saß ich auf dem Dach des Kirow, des Wohnblocks, in dem ich lebte, seit ich fünf war (obwohl das Haus seinen Namen erst 1934 bekam, als Kirow erschossen und die halbe Stadt nach ihm benannt wurde), beobachtete
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