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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen
Autoren: Jack Dann
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„Ziehen Sie sich aus.“
    „Warum?“ fragte Mantle stammelnd, und die Worte aus seinem Mund entsprachen nicht denen in seinem Kopf. Eine Sekunde lang dachte er, er spräche mit Ellen.
    „Ziehen Sie sich einfach aus.“
    Aber Mantle machte keine Anstalten dazu. Obwohl er die Nacktheit in der Öffentlichkeit genauso natürlich fand wie die Haut, fühlte er sich plötzlich verlegen und prüde.
    „Als Sie sich auf die Suche nach Visionen machten, sind Sie nackt losgezogen, was Sie jetzt auch tun müssen“, sagte Roberta. „Fügen Sie sich. Lockern Sie Ihren Verstand.“
    Mantles Gesicht brannte. Verflucht sei Ellen, die ihm das alles gesagt hat. Er erinnerte sich, wie er in der Grube der Visionen gehockt und von Donnerwesen und dem Geheimnis der heiligen Kabbala geträumt hatte; damals war er achtzehn gewesen. Die Suche nach Visionen war wirklich, echt gewesen; diese Zeremonie war ein Schwindel. Aber mehr noch: Sie war Scheiße. Die Suche nach Visionen war der letzte Versuch gewesen, sich vor seinem Übergang in die zivilisierte Erwachsenenwelt an die Kindheit zu klammern. Damals wie heute hatte er Halluzinationen gehabt, und das war alles, was die beiden Zeremonien miteinander gemein hatten. Aber er glaubte nicht einmal an das, oder doch? In seinem Innern, in den furchterregenden Kellern seines Gemüts, glaubte er an die alten Visionen und an all die Geister, die er gesehen hatte.
    Sogar jetzt glaubte er daran.
    Im Grunde war es ihm egal, daß diese Zeremonie ein Schwindel war, ein Mischmasch aus anderen Kulturen und Religionen – was ihn wurmte, war das Ketzerische daran. Indem er daran teilnahm, sich auszog und den Steckkontakt suchte, verleugnete er seine alten Götter und nahm neue an.
    Unbeholfen zog er sich aus, warf seine Sachen auf einen Haufen und schritt durch die Menge zu dem Grab. Die Anbetenden schlossen hinter ihm wieder die Reihen.
    Roberta hatte auf ihn gewartet, und er folgte ihr in das Grab, das gleichmäßig beleuchtet war und größer wirkte als von außen, zweifellos ein Effekt der zikkuratähnlichen Bauweise. Die Steinwände waren kahl und hatten so breite Risse, das man hindurchblicken konnte. In der Mitte des Raumes, neben dem großen verwitterten Sockel des Psychokonduktors, lag der Schreier: ein Mann mittleren Alters mit einem langen fahlen Gesicht, regelmäßig überkronten, tiefgebetteten Zähnen und blaßblauen Augen, die vielleicht einmal scharf gewesen, nun freilich glasig waren – Mantle hatte die absurde Vorstellung, daß die Augen aus Porzellan wären, daß er darauf etwas hätte malen oder mit dem Fingernagel dagegen hätte tippen können, ohne auch nur das geringste Blinzeln hervorzurufen. Der Schreier, der wohlhabend gewesen sein mußte, um sich ein so schönes Gebiß leisten zu können, war nackt. Mantle konnte nicht umhin festzustellen, daß ihm die meisten Schamhaare ausgefallen waren (und auch die meisten Kopfhaare, obwohl er nicht völlig kahl war) und daß er eine gewaltige Erektion hatte.
    Die anderen Anwesenden, die bis zum Skelett abgemagert und dünnhäutig waren, starrten auf den Schreier hinab, der noch lebte und flach atmete. Mantle erschauderte bei seiner Beobachtung: Sie alle warteten auf den Tod des Schreiers.
    Ein Krankenhausgeruch hing im Raum. Mantle fühlte sich meilenweit von der Zeremonie und der Menge draußen entfernt, jahreweit von der durch Drogen erzeugten Euphorie der Glossolalie. Er war einfach in einem Wartezimmer und wartete darauf, daß ein Mann starb, damit er den Steckkontakt finden und dann mit ein paar Erinnerungen, um sein leeres Leben zu bereichern, nach Hause gehen könnte.
    „Wo ist Pretre?“ fragte Mantle.
    „Draußen bei den anderen Schreiern“, flüsterte Roberta. „Er wird rechtzeitig zurück sein.“
    Wir sind Vampire, dachte er. Roberta lächelte, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Sollten wir nicht mit dem Steckkontakt anfangen, bevor er tot ist?“ fragte Mantle. „Ihm sozusagen hinüberhelfen?“
    „Wir können ihm nicht helfen, bevor er tot ist. Und dann wird er uns helfen.“
    Mantle betrachtete den Schreier. Ich pfeife auf ihn, dachte er. Wenn der Mann seine Privatsphäre hätte bewahren wollen, wäre er allein gestorben. Merkwürdig, dieser Haß, den er gegen den Sterbenden empfand. Er wunderte sich darüber. Vielleicht war es letztlich doch nicht so merkwürdig. Er würde in ihn eindringen, seinen Verstand ficken, was körperlicher und sinnlicher war, als wenn er bloß Leichenschändung getrieben
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