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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen
Autoren: Jack Dann
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hätte.
    Er konnte sich vorstellen, daß er genau das tat und sich dadurch selbst erniedrigte. Er hatte freilich einen Grund dazu, nämlich Josiane zu finden. Aber Ellen – er konnte sich nicht vorstellen, daß sie im Verstand einer Leiche versank. Doch sie war bereit, das für die Kirche zu tun.
    Er fühlte, wie Haß gegen sie in ihm aufstieg – und Begierde nach ihr.
    Mit einem langen Seufzer starb der Schreier.
     
     
    Pretre stülpte die Metallkappe über den Kopf des toten Schreiers; zwei weitere Kappen lagen neben ihm: Kronen für die Bekehrten. Mantle hatte erwartet, daß er bei dem Steckkontakt als erster an die Reihe käme – das heißt nach Pretre –, aber drei andere waren vor ihm dran. Jeder Steckkontakt verlief kurz, dauerte nicht länger als drei oder vier Minuten, wonach Pretre die Kappe abnahm und sie neben den Schreier legte. Nach dem Steckkontakt sackten die drei anderen Teilnehmer entweder bewußtlos oder in einer Art Trance vornüber.
    Noch kannst du hier raus, sagte sich Mantle und erinnerte sich an seine erste Inipi-Zeremonie, als er noch ein Kind war: Er saß in der völlig dunklen Schwitzhütte und hörte dem Medizinmann zu, der erklärte, was geschehen würde: Wenn jemand die Hitze nicht ertragen könne, brauche er nur zu sagen: „Alle meine Verwandten“, und irgendwer würde die Zeltbahn hochheben und ihn hinauslassen, das sei keine Schande.
    Roberta nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu dem Schreier. Es roch schwach nach Urin und Kot. Schließlich ist der Mann tot, sagte sich Mantle. Auch Pretre stank; es war ein nervöser Schweiß und nicht der saubere Schweiß eines Athleten.
    „Möchten Sie, daß ich den Steckkontakt mit Ihnen mache?“ fragte Roberta. „Das können Sie entscheiden.“
    Mantle schüttelte den Kopf. Ich muß Josiane allein finden, dachte er, angsterfüllt und verärgert darüber, daß Ellen und Roberta und Pretre so viel von ihm wußten. Aber ich möchte nicht allein sein…
    „Nun gut“, sagte Roberta. „Setzen oder legen Sie sich bequem hin, wie es Ihnen lieber ist.“ Sie streichelte und beruhigte ihn wie ein Kind oder einen impotenten Liebhaber. „Mit mir wären Sie sicherer.“ Mantle wandte das Gesicht von ihr ab. „Noch immer können Sie einen Rückzieher machen, noch ist es nicht zu spät dazu.“
    Mantle lachte leise und sagte: „Alle meine Verwandten.“ Roberta sah ihn verwundert an und zuckte dann mit den Achseln.
    „Also gut“, sagte Pretre. „Wir werden alle bei Ihnen sein.“ Es klang nicht überzeugend. Dann stülpte Pretre die Kappe über Mantles Kopf.
    Ein kurzer Atemzug, dann völlige Stille, Klaustrophobie. Es ist bloß eine Maschine, du Ei, sagte sich Mantle, dann dämmerte ihm plötzlich, daß er nicht die genaue Position seines Körpers kannte. Er versuchte, seine Beine zu bewegen, seine Finger zu krümmen, schien sie aber nicht lokalisieren zu können. Seine Gedanken waren Geflechte, die ausfaserten, sich verknoteten und bei jedem Atemzug mehr verhedderten.
    Dann hatte er das deutliche Gefühl, seinen Körper zu betrachten: Er war etwas Schattenhaftes aus Schwarz und Silber. Er konnte auch den Körper des Schreiers neben seinem eigenen sehen.
    Er wartete; es war so, als umspülte ihn ein ewiger Fluß, berührte ihn und flösse dann weiter, still und zugleich in ständiger Bewegung.
    Etwas krächzte. Das Geräusch klang in seinen Ohren mißtönend, war aber etwas meilenweit von ihm Entferntes.
    Es ist nur Pretre, der mit Roberta spricht, sagte er sich erleichtert.
    Plötzlich verspürte Mantle einen Ruck, und Bilder flitzten ihm durch den Sinn, alle silbern und schwarz, lauter Allerweltsvorfälle, eine Episode nach der anderen, sämtliche fremd und bedeutungslos.
    Es gab nur Schwarz und Silber, dunkel und dunkler; ganz allmählich wurde alles grau und verschwommen.
    Das Gedächtnis des Schreiers entwich.
    Konnte etwas so langweilig, konnte das Spiel des Gedächtnisses und der Reflexion so uninteressant sein? Irgendwie war dieses bloße Abspulen reine Ironie. Wieviel großartiger war der Glaube, daß das Ende carthatisch sein würde, daß in jenen letzten Sekunden Farben heller, Erfahrungen verdichteter sein würden, ein letztes Aufsaugen der Säfte und des Marks, ein letztes Auskosten des Lebens und dann ein langsames Dahinschmelzen in die Dunkelheit…
    Dennoch flitzten immer noch Bilder Mantle durch den Sinn: Der Schreier halluzinierte, träumte noch. Wenn es wenigstens etwas Farbe gäbe, dachte er, und dann fiel ihm ein, daß
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