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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen
Autoren: Jack Dann
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sich endgültig von der schwarz-silbernen Welt los und stürzte kopfüber in elektrisches Licht.
    „Was zum Teufel ist…“
    „Gendarmerie“, sagte sie. „Das sind die Schlimmsten. Kommen Sie endlich hier raus.“ Sie schubste ihn aus dem Grab.
    Mantle fiel hin und begann den kiesigen Rand des Dolmens entlangzukriechen, noch immer nicht sicher, was davon eigentlich Wirklichkeit sein mochte: Gewehrschüsse, Tote, der Geruch von Erde und Blut. Er dachte an Dodds, dessen eine Gesichtshälfte vor so langer Zeit weggeschossen worden war. Er dachte an Josiane, die auf ihn wartete. Wahrscheinlich stellte Roberta in diesem Augenblick den Steckkontakt mit Pretre her, der von einem durch eine der Graböffnungen gefeuerten Prellschuß getötet worden war. Er spürte den Sog des Grabes. Er könnte zurückkriechen, den Steckkontakt herstellen, allem ein Ende machen…
    Neben Mantle rief irgend jemand um Hilfe, aber Mantle kroch gewissermaßen zu einem imaginären Licht weiter.
    Es tut mir leid, Josiane. Ich kann nicht zurück…
    Barmherzig verdeckten Gewitterwolken den Mond, und alles war dunkler, gleichsam maskiert; aber es war eine lebendige Dunkelheit, eine ohne das kalte Silber in den Bewußtseinszonen des Schreiers. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit.
    Es erklangen Schreie, Stöhnen, knallende Gewehrschüsse, die nach Atem ringenden, winselnden, röchelnden Geräusche der Sterbenden. Mantle war sich jetzt jeden Geräusches, jeder Bewegung bewußt, während er in den Kies und den feuchten, säuerlich riechenden Schmutz keuchte. Alles war ein einziger Ansturm von Bewegungen: Jeder Anblick, jedes Geräusch, jeder Geruch wurde wahrgenommen und wich sofort dem nächsten; es war eine völlige Hingabe an die Gegenwart, denn jeder Augenblick, jeder Zeittropfen bedeutete ein Entweder/ Oder: noch ein paar Schritte zu gehen oder zu kriechen, noch ein paar Atemzüge und Gedanken oder eine in Gewebe und Knochen einschlagende Kugel. Es war eine heiße, drüsenanregende Welt, eine Verlängerung des Augenblicks vor dem selbstmörderischen Sprung oder Abdrücken. Es war eine völlige Verdichtung von Leben und Erinnerung zum Überleben.
    Mantle vermutete, daß das Überfallkommando nur aus wenigen Männern bestand. Die Gendarmen oder boutades-Terroristen hatten automatische Waffen. Sie zogen es vor, kein Risiko einzugehen, sondern blindlings in die Menge zu feuern. Es spielte keine Rolle, wenn einige entkamen – den Terroristen ging es um die Tat selbst und nicht um die Anzahl der Toten oder Verwundeten.
    Plötzlich erstarb die Schießerei, und eine Stille lag über der Gegend, eine Schwere, die irgendwie das ferne Rollen der Wogen und das gelegentliche Stöhnen der Verwundeten ausschloß.
    Als Mantle die Bäume schließlich erreichte, glitt er zurück in die Erinnerung, zurück zu dem alten Haus in Binghamton, wo er aufgewachsen war, als noch Tannen und Fichten die Berge bedeckten. Aber damals achtete er nicht weiter auf Bäume. Er war vierzehn und Josiane elf, aber für ihr Alter schon recht entwickelt; sie kam in sein Zimmer, und sie legten sich ins Bett und plauderten, und sie ruckte an ihm, wie sie es seit ihrem achten oder neunten Lebensjahr zu tun pflegte, und er wälzte sich auf sie, starrte ihr unentwegt ins Gesicht und drang in sie ein. Dann hielten sie inne, als genössen sie irgendein köstliches warmes Eis, und starrten einander nur an, während sie auf und ab wogten und bloß ihr Atem etwas schneller ging. Es war eher ein Zwiegespräch, die Entdeckung einer Vergangenheit, an die sie sich nie erinnern konnten. Solche Augenblicke hatte er nie wieder erlebt.
    Mantle streifte einer Leiche, die er gefunden hatte und die das Gesicht in der weichen Erde vergrub, hastig die Kleider vom Leibe. Er entfernte sich, die Kleider in der Hand, vom Strand, auf dem er leicht hätte erwischt werden können, zu sichererem Terrain. Er schluckte Erbrochenes herunter und erinnerte sich daran, wie er als Zwangseingezogener der UNO in Ghana gekämpft hatte, erinnerte sich an eine Nacht wie diese, als seine Abteilung, wahnsinnig durch das Gemetzel und vor Hunger, über ein niedergebranntes Feld gerannt war, den Ghaks die Finger abgeschnitten, die Goldzähne herausgebrochen und ihre verkohlten Leichen an ihren napalmsteifen Schwänzen wie Fahnen geschwenkt hatte.
    Das war die Nacht, dieselbe Nacht. Mantle hörte in seinem Kopf ein schallendes Gelächter. Ich kann nicht zurück, Josiane…
    Ein Blitz über ihm, ein lauter
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