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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen
Autoren: Jack Dann
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wie vom Sturm aufgewirbelte tote Blätter zurück. Er hörte ihre Stimme; es war Josiane, und sie sagte: „Es war nicht deine Schuld, mach dir keine Vorwürfe“, und er erinnerte sich wieder.
    Ein heißer stickiger Vormittag in der 79 th Street des Village; Mantle war zu Hause, Josiane einkaufen gegangen. Es war am Morgen des ersten Großen Schreies. Menschenmengen füllten Avenuen und Straßen, ein riesiges, vielköpfiges Tier. Sogar in seiner schalldichten isolierten Wohnung hörte Mantle den Schrei oder spürte ihn wohl eher.
    Er wurde auf die Straße gezogen. In wahnsinniger Sorge um Josiane, seine verwundbare kleine Schwester, wurde er – ganz genauso – von den Schreiern angezogen. Ihr Schrei klang wie das Ariara; es war der Rhythmus von Feuer und Transzendenz und Tod, und er trug ihn wie ein Organ zu seiner Frau, die verzweifelt gegen die Menge und die Stimmen ankämpfte.
    Sie rief ihn, aber er nahm silbrige Musik war, hörte die dunklen Stimmen, die wie Weizen auf dem Feld in seinen Kindheitserinnerungen raschelten. Er fühlte sich verwandelt, in den heißen Kern eines Wirbelsturms gerissen, in die Stimmungen seiner Lieblingsbilder: die gelben Felder von van Gogh, das ewige Eisen von Pollack.
    Er fühlte sich im Einklang mit der Menge, hörte jede bezirzende Stimme außer der Josianes; sie war eine bizarre Figur auf einem Stilleben, die ihn stumm rief. Sie befand sich in Gefahr, ihr drohten Transzendenz und Tod. Sie rief aus immer größerer Tiefe des Tieres; und wenn er sie zu retten versuchte, würde er wahrscheinlich selbst verloren sein.
    Wie jemand, der sich selbst aus dem tiefsten Schlaf oder einem genußreichen Traum reißt, riß er sich los, verschloß sich den Stimmen und ließ sie im Stich. Er durfte sich nicht einmal nach ihr umschauen, sonst wäre er ihr gefolgt und in die Unterströmungen des Verstandes hinabgezogen worden.
    Pragmatischer Mantle, der mit der Schuld lebt, sie in sich frißt…
    „Wo bist du?“ rief er nach ihr und verschmolz mit seinen alten Träumen. Hoffte, daß sie noch am Leben war, als könnte er die Vergangenheit ungeschehen machen.
    „In dem Tier“, sagte sie und lachte über seine Gedanken.
    „Dann bist du tot?“ fragte er. Er konnte ihre silbrig funkelnden Gedanken sehen, aber wo war sie?
    „Ich warte auf dich“, erwiderte sie und wiegte ihn in dem ozeanischen Schoß.
    „Aber du bist doch tot!“ Und die Schuld stürzte sich wie ein tollwütiges Tier auf ihn; und dennoch mußte er, wieder selbstsüchtig, am Leben bleiben. Das war stärker als Schmerz und Liebe und Schuld. Nichts war wichtig außer Licht und Farbe und Klang, der rasselnde Atem, das ständige Wissen um kleine körperliche Leiden und Schmerzen, gesegneter Schmerz, lebendiger Schmerz.
    Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes Geräusch und fühlte sich fallen. Er war im Verstand des Schreiers, im Verstand vieler festgehalten worden, und er spürte die dunklen Schleier, den gleichen toten Stoff, auf die er gestoßen war, wenn er einen schlechten Drogentrip gemacht hatte. Jetzt zerrissen die Schleier, und Mantle fiel durch sie hindurch – mit einem Ruck kehrte er ins Leben zurück.
    Aber er erstickte im toten Gewebe der Schuld.
     
     
    Roberta setzte Mantle die Kappe ab und schüttelte ihn. „Kommen Sie, versuchen Sie aufzustehen. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.“ Sie zog an ihm.
    Mantle versuchte, sich zu erheben, aber seine Beine gaben nach; er versuchte mit dicker Zunge, Wörter zu bilden, brachte aber nur Gutturallaute hervor. Alles bewegte sich in Zeitlupe. Pretre lag zusammengerollt neben ihm, die Beine auf einer blutbefleckten Matte gespreizt, während sein Arm auf dem Hals des Schreiers ruhte, als wäre er zwischen dem unteren Rand der Kappe und dem Brustbein eingeklemmt. Aber Mantle konnte keine Wunde entdecken; völlig irrational dachte er, es wäre Pretres blutendes Herz.
    „Kommen Sie“, sagte Roberta und half ihm hoch, dann zog sie ihn zu der verhängten Graböffnung; er strauchelte und fand keinen Halt für seine Füße. „Josiane?“ fragte er. „Lebst du?“
    „Wachen Sie auf, ich bin Roberta und nicht Josiane.“
    Er hörte ein Krachen oder vielleicht einen Knall. „Was ist das?“ stammelte er erstaunt über den Klang seiner eigenen Stimme. Wie ein Schwachsinniger.
    „Kugeln.“
    „Dann bleib hier drinnen, Josiane“, versuchte Mantle zu sagen, aber sein Mund verweigerte ihm den Dienst.
    Roberta lockte ihn zum Grabvorhang; und plötzlich wurde er hellwach, riß
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