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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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ihre Vorgänger, sondern unternimmt ausgedehnte Spaziergänge und besucht gelegentlich die Geschäfte. Wer sie gesehen hat, beschreibt sie als eine freundliche Person, höflich und zurückhaltend, was man nicht von jedem Bewohner Eldorados sagen kann.
    Doch kaum einer hat je mit ihr gesprochen.
    Und niemand kennt ihren Namen.
    Wie so häufig, sitzt Thura auch jetzt auf der Veranda und genießt die Sonne. Nach Jahrzehnten im wechselhaften, zumeist kühlen Klima ihres Heimatlands erscheint es ihr wie ein Traum, fast immer einen blauen Himmel zu sehen.
    Trotz ihrer Umgebung ist ihr klar, dass sie eine Gefangene ist. Bastos, oder besser: Winter, denn sie kennt seit einiger Zeit die Identität ihres Wohltäters, hat sie zwar nicht gezwungen, mit nach Dagombé zu kommen, sondern ihr lediglich einen Vorschlag unterbreitet. Allerdings einen Vorschlag, den man unmöglich ablehnen kann.
    Irgendwie war es ihm gelungen, in den Besitz der Akte zu gelangen, die Thuras Bekannter bei ihrer Rückkehr in die Stadt aus den Archiven der Sicherheitsdienste hatte verschwinden lassen. Winter hatte sie darauf hingewiesen, wie leicht die Akte mit weiteren Informationen erneut in die Hände der Dienste fallen könnte. Zugleich hatte er ihr eine Alternative angeboten. Sie solle ihn nach Dagombé begleiten und ihm einen kleinen Gefallen erweisen. Als Dank würde er ihr die Akte aushändigen und sie finanziell so gut ausstatten, dass sie sich in einem Land ihrer Wahl niederlassen konnte.
    Sie willigte ein, auch wenn sie seine Absichten bis heute nicht ganz verstanden hat. Sein Anliegen war einfach. Er hatte sie lediglich gebeten, Viktor Vaus Notizbuch, das sie damals in Verwahrung hatte, durchzublättern und sich alle Seiten anzusehen.
    Thura nimmt einen Schluck von dem kühlen Fruchtsaft, der neben ihr auf dem Tisch steht. Dann zieht sie den Schreibblock und Stift zu sich herüber, die bereits seit einigen Stunden auf sie warten. Es hat keinen Sinn, die Sache länger aufzuschieben. Erneut fragt sie sich, woher Winter wusste, dass sie eine Eidetikerin ist, also ein Mensch, der etwas nur einmal sehen muss, um es sich unauslöschlich ins Gedächtnis einzuprägen. Sie hat diese Gabe immer sorgfältig vor ihrer Umgebung verborgen, aber er hat es irgendwie herausgefunden. Und deshalb sitzt sie jetzt hier.
    Sie schlägt den Block auf und beginnt zu schreiben:

    George Dalgarno hat einmal gesagt: ›Die Arbeit des Philosophen muss der des Linguisten vorausgehen.‹ In diesem Sinne enthalten die folgenden Seiten zunächst einmal die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer neuen Sprache, bevor die Sprache selbst mit ihren Begriffen, Regeln und Zeichen aufgeführt wird …

    ENDE

Nachbemerkung
    Der Kampf der rechten gegen die linke Gehirnhälfte, die Entstehung der Sprache aus der Musik, die Erschaffung einer vollkommenen Sprache – das alles ist keine Erfindung von mir, sondern umfassend dokumentiert. Wenn ich einzelne Aspekte oder Fakten nicht richtig wiedergegeben haben sollte, so liegt das allein an mir und nicht an dem verwendeten Quellenmaterial.

    Von den Büchern, die ich zur Vorbereitung studiert habe, möchte ich an dieser Stelle fünf besonders erwähnen. Wer an den angesprochenen Themen Interesse hat, wird sie sicher mit Genuss lesen.

    Von Ian McGilchrist stammt »The Master and His Emissary: The Divided Brain and the Making of the Western World«. Leider ist das Buch derzeit nur in englischer Sprache erhältlich. Im ersten Teil der sechshundert Seiten fasst der Autor zusammen, was die Forschung bislang über die beiden Gehirnhälften weiß. Im zweiten Teil zeichnet er die Epochen der Geschichte nach, die sich seiner These nach eindeutig der Vorherrschaft der linken oder rechten Gehirnhälfte zurechnen lassen. Trotz der vielen Informationen ein gut lesbares und ausgesprochen spannendes Buch.

    Ebenfalls neu derzeit nur in Englisch erhältlich ist »The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind« von Julian Jaynes, sozusagen der Klassiker der Bikameraltheorie. Hoch spekulativ, aber ausgesprochen lesenswert.

    Ãœber Plansprachen und vollkommene Sprachen informiert Umberto Eco in »Die Suche nach der vollkommenen Sprache«. Die umfassende Darstellung ist auch für einen Laien gut verständlich.

    Wer mehr über die faszinierende Welt und Sprache der Pirahã erfahren möchte, sollte Daniel Everetts
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