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Das verflixte 4. Schuljahr

Das verflixte 4. Schuljahr

Titel: Das verflixte 4. Schuljahr
Autoren: Martin Kohn
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Vorwort
    Stresstest Grundschule
    Ein Drittklässler bricht in einer westfälischen Grundschule über einer Klassenarbeit zusammen und wird ins Krankenhaus eingeliefert.
    Zwei neunjährige Mädchen aus Thüringen reißen von zu Hause aus, weil sie den Druck ihrer Eltern nicht mehr aushalten.
    Ein Realschüler der 5. Klasse aus Bayern leidet unter Depressionen, weil er es sich nicht verzeihen kann, dass er den Sprung aufs Gymnasium verfehlt hat.
    Drei Schlagzeilen, drei Bundesländer. Ein Thema. Stress, Leistungsdruck und Versagensangst machen sich zunehmend an deutschen Grundschulen breit. Das Lernen aus Freude an Neuem ist zu einem Streben nach guten Noten geworden, um unbedingt eine Empfehlung oder den nötigen Notendurchschnitt fürs Gymnasium zu erreichen.
    Kaum ein Schüler kann von sich behaupten, stressfrei durch die Grundschule zu kommen. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO leidet jeder fünfte Schüler unter Symptomen wie Bauchschmerzen oder Einschlafstörungen. Forscher der Universität Mainz fanden heraus, dass es kaum ein Land in Europa gibt, in denen Schüler derart unter Schulstress leiden wie in Deutschland – nur Griechenland schneidet hierbei noch schlechter ab. Besonders hervorzuheben sind dabei Leistungsdruck, Rivalität unter Mitschülern sowie Verständnislosigkeit der Lehrer.
    Grundschüler von heute sind die Burnout-Patienten von morgen. Da hilft kein Fernsehglotzen oder Meditation weiter, auch die von vielen Grundschülern bereits in Anspruch genommene Psychotherapie trägt kaum zur Tiefenentspannung bei. Sport und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen könnten eine Balance zum Schulstress darstellen, wenn sie nicht selbst einem starren Zeitplan unterworfen wären und somit zu einem weiteren Pflichtprogramm verkämen. Ein pausenloses Hetzen von Nachhilfe zur Klavierstunde zum Fußball, und das Tag für Tag, hält kein normales Kind aus.
    »Gymnasium – wenn’s gut werden muss!« Projekte werden nicht mehr auf der Werkbank angegangen, sondern sind die Früchte des Schlafzimmers. In einer Zeit, in der die Eltern im Durchschnitt immer älter werden, ist der Sprössling der große Hoffnungsträger. Viele Eltern wollen aus ihrem Kind – oft das einzige – das Beste herausholen. Ihr Kind soll es dann bringen, ihr Kind soll der Welt zeigen, dass es gar nicht anders geht, als bei diesen tollen Eltern selber zu einem tollen Kind zu werden. Diese Ideologie führt allerdings zu einer weiteren Zuspitzung in unserem ohnehin schon verrückten Schulsystem, das die Hauptschule in der Tat zu einer Randschule verkommen lässt, mit allen sozialen und emotionalen Abwertungen, die mit solch einer Klassifizierung einhergehen.
    Das Gymnasium wird stilisiert zu einer Ikone, zum Maß aller Dinge. Gehste nicht aufs Gymi, biste kein ganzer Kerl. Dies wird mancherorts derart ad absurdum geführt, dass eine Großstadt wie Frankfurt nur noch eine Hauptschule führt. Als Mitglied der Schulleitung bin ich nicht nur für die Zusammenarbeit mit den Grundschulen und den fließenden Übergang von der Grundschule auf unser Gymnasium zuständig, sondern ich stelle – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen benachbarter, anderer Schulformen – unsere Schule auf Elternabenden an Grundschulen vor und berate die Eltern hinsichtlich einer geeigneten weiterführenden Schule für ihre Kinder. Stets ist auch der eine Vertreter der einzigen Hauptschule der Stadt anwesend. Was er sagt, beschreibt eindeutig das Dilemma, in dem wir uns befinden: »Ich weiß, dass Sie mich gar nicht hören wollen«, beginnt er die Vorstellung seiner Schule. »Ihr Kind geht sowieso nicht auf die Hauptschule. Aber man sieht sich immer zweimal im Leben.« Und dann berichtet er, dass sie in der Regel nur 15 bis 20 Kinder in der 5. Jahrgangsstufe haben. In Zeiten überfüllter Klassen ein wahrhaft paradiesischer Zustand. In der 8. Klasse sind es dann aber schon 60 bis 70 Schüler, die von der Realschule oder aus dem Gymnasium abwandern (mussten).
    Solche Auswüchse stehen dafür, dass aus der behüteten und sorgenfreien Grundschulzeit von einst, in der ein Kind auch noch Kind sein durfte und sich mancherorts in die Spiel- und Kuschelecke zurückziehen konnte, heute eine Wettkampfarena geworden ist, in der die Kleinen mit olympischem Feuereifer gegeneinander antreten, stets das große Ziel des Übergangs auf das Gymnasium vor Augen. Da sitzen Kinder verzweifelt in der Klasse, weil sie »nur« eine Drei bekommen haben. Andere weinen das
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