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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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grauen, eisigen Oktober gewichen, und die Menschen liefen mit hoch aufgestellten Mantelkrägen und unter Regenschirme geduckt durch die Straßen der Stadt. Selbst mittags war es so dunkel, dass die automatische Straßenbeleuchtung ansprang.
    Astarte und Enrique saßen sich in dem Bistro gegenüber, in dem er und Christian gearbeitet hatten. Astarte hatte zunächst nicht dorthin gehen wollen, aber Enrique hatte sie überzeugt, sich den Ängsten, die sie verfolgten, zu stellen. »Wenn du sie jetzt nicht besiegst, dann werden sie dich dein ganzes Leben lang nicht in Ruhe lassen«, hatte er gesagt.
    Es war das erste Mal, dass sie sich seit ihrer Rettung durch die Polizei wieder in Freiheit gegenübersaßen. Enrique war gestern aus der Untersuchungshaft entlassen worden, nachdem auch die letzten Zweifel hinsichtlich seiner Unschuld beseitigt waren. Die Polizei hatte schließlich Christians Folterkeller gefunden und auch das Versteck, in dem er sein Tagebuch aufbewahrte. Dort war jede Tat, die er in den letzten Jahren verübt hatte, minutiös verzeichnet.
    Astarte wusste, dass sie Enrique ihr Leben verdankte. Er hatte sich an jenem Tag der Polizei gestellt und Kommissar Fellner gedrängt, ein Kommando zu ihrer Wohnung zu schicken, das gerade noch rechtzeitig eingetroffen war. Zunächst hatte die Polizei Enrique unter dem Verdacht der Mittäterschaft festgehalten. Astarte hatte ihn jeden Tag im Gefängnis besucht.
    Nach Abschluss der Ermittlungen wurde schließlich verlautbart, dass es sich bei Christian Sonntag um einen psychopathischen Einzelgänger handelte. Aus seinem Tagebuch war zwar seine Verbindung zu Viktor Vau ersichtlich, aber Astarte und Enrique hatten Fellner überzeugen können, diese Tatsache vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Viktor war tot, und selbst Fellner hatte mitbekommen, dass er in seinen letzten Tagen von den Sicherheitsdiensten gejagt worden war. Trotz seiner Sturheit hatte er keine Lust, sich mit den Diensten anzulegen. Er hatte schon genug Gegenspieler ohne sie.
    Â»Da sitzen wir wieder«, sagte Enrique und rührte gedankenverloren in seinem Kaffee. »Zwei Menschen in einer anderen Zeit.«
    Auch Astarte musste an das erste Mal denken, als sie sich zu einem Kaffee getroffen hatten. Es kam ihr vor, als sei das Jahre her.
    Â»Und jetzt?«, fragte sie.
    Â»Wir müssen noch einmal von vorne anfangen und in die Zukunft blicken.«
    Â»Die Zukunft?« Sie lachte bitter. »Die Zukunft ist unsere Vergangenheit.«
    Â»Glücklicherweise«, erwiderte er und grinste. »Wenn sie unsere Zukunft wäre, dann würde ich mir überlegen, ob ich meinem Leben nicht gleich ein Ende setze.«
    Â»Das sagst du ?« Er brachte es immer wieder fertig, sie zu überraschen.
    Â»Ich hatte in den letzten Wochen genug Zeit zum Nachdenken. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es mir in dieser Zeit besser gefällt. Gerade wegen ihrer Unvollkommenheiten.«
    Er hob die Hand, bevor sie etwas erwidern konnte. »Ich wünschte mir, man könnte das Vergessen ebenso trainieren wie das Lernen. So muss ich wohl selbst daran arbeiten, die Sprache, mit der ich aufgewachsen bin, aus meinem Kopf zu vertreiben.«
    Â»Das geht mir nicht anders«, sagte Astarte. »Ich habe es vielleicht nur ein wenig leichter als du, weil ich schon seit vielen Jahren dagegen angehe.«
    Â»So sind wir beide zu Verrätern an unserer Zeit und unserer Sache geworden.«
    Â»Ich sehe das nicht so«, widersprach sie. »Du hast nicht deine Zeit, sondern deine Auftraggeber verraten. Das ist etwas völlig anderes, denn damit hast du dich auf die Seite der Bevölkerung gestellt. Und ich habe das Ziel meines Auftrags erreicht.«
    Â»Aber Viktor getötet hast du nicht«, sagte er. »Du hattest doch genug Gelegenheiten, ihn umzubringen. Warum hast du es nicht getan?«
    Â»Im Gegensatz zu dir bin ich kein ausgebildeter Killer«, erwiderte sie, vielleicht eine Spur zu scharf. »Als ich ihm damals das erste Mal in seinem Büro gegenübersaß und er sein Notizbuch auf den Tisch legte, überlegte ich, ob ich ihn sofort töten sollte. Schließlich hätte ich damit beide Aufträge auf einen Schlag erfüllt.«
    Sie machte eine Pause und fuhr nachdenklich mit dem Finger auf dem Tisch herum. Dann sah sie Enrique an.
    Â»Hast du schon einmal jemanden umgebracht?«
    Er nickte. »Während meiner Ausbildung. Wir
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