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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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waren damals in der Grenzregion stationiert. Es kam immer wieder zu Aufständen, und wir Rekruten wurden in der ersten Reihe eingesetzt. Es hieß töten oder getötet werden. Auf diese Weise wollten sie uns abhärten.«
    Â»Und? Ist es ihnen gelungen?«
    Enrique zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Nach der Grundausbildung bin ich nie in eine Situation geraten, in der ich jemand umbringen musste.«
    Â»Sei froh«, sagte sie. »Ich hatte es mir sehr einfach vorgestellt. Allen Hass, den ich besaß, hatte ich auf Viktor konzentriert. Ich sah ihn nicht als Menschen, sondern als ein Ungeheuer, das mit seiner Arbeit wissentlich die Gesellschaft erschaffen hatte, in der ich lebte. Doch als ich ihm das erste Mal in die Augen sah, wusste ich, dass ich meinen Auftrag nicht ausführen würde. Denn er war kein Monster, sondern ein Mensch. Einfach nur ein Mensch wie alle anderen Menschen auch.«
    Â»Es ist schon absurd, dass er dennoch sterben musste.« Er schob die Tasse mit dem inzwischen erkalteten Kaffee von sich und beugte sich über den Tisch. »Ich habe für meinen Auftrag genug Gold und Diamanten mitbekommen, dass wir beide davon gut leben könnten. Was hältst du davon?«
    Â»Soll das ein Antrag sein?«, fragte sie lächelnd.
    Â»Ich meine, nicht als Paar – obwohl ich da nichts gegen hätte. Ich dachte eher an eine gemeinsame Unternehmung.«
    Astarte zog fragend die Augenbrauen hoch.
    Â»Ich dachte an ein kleines Forschungsinstitut«, fuhr er fort. »Wir beide wissen, welche Gefahr durch die Vorherrschaft der linken Gehirnhälfte droht. Wir haben selbst erlebt, wohin diese Entwicklung führen kann, ob nun mit der Sprache Viktor Vaus oder ohne. Ich dachte mir, wir könnten an dem Thema weiterarbeiten, eine Website einrichten, Kongresse abhalten oder Bücher darüber schreiben.«
    Astarte sah ihn lange an. Die Idee gefiel ihr. Auf diese Weise konnten sie ihre Erfahrungen aus der Zukunft in dieser Zeit, in der sie gestrandet waren, sinnvoll einsetzen. Und Enrique würde wahrscheinlich für immer der Mensch bleiben, der sie am besten verstand, weil er mehr mit ihr teilte als jeder andere auf diesem Planeten.
    Sie nickte. »Einverstanden.«
    Er streckte ihr die Hand über den Tisch entgegen. »Also sind wir gewissermaßen Partner?«
    Sie schlug ein. »Partner. Gewissermaßen.«
    Er hielt ihre Hand etwas länger fest, als nötig gewesen wäre, aber das war in Ordnung.
    Â»Und wie war das mit dem Antrag?«, fragte sie.
    Draußen rissen die Wolken auf, und ein zaghafter Sonnenstrahl bahnte sich den Weg hindurch auf die regennassen Straßen.

Epilog

    Dagombé
    Am Stadtrand von Agua Caliente trifft der Besucher, der sich per Zufall hierhin verirrt, auf ein Areal, das von zwei Reihen elektrischer Zäune umgeben ist. Von außen lässt sich nicht erkennen, was dahinter verborgen liegt, denn mehrere Baumreihen versperren die Sicht. Wem es gelingt, auf die versteckt liegende Zufahrt, die durch ein drei Meter hohes Stahltor und vier bewaffnete Sicherheitsleute geschützt wird, zu gelangen, findet sich auf einer gewundenen Straße wieder, die durch ein Waldstück auf eine weitläufige Lichtung führt. Hier stehen mehrere Reihen modernster Bungalows, jeder mit einem großen Garten, Swimmingpool und allen weiteren Annehmlichkeiten, die man sich wünschen kann.
    In dieser Siedlung wohnen die Spitzenpolitiker und Wirtschaftsmagnaten Dagombés mit ihren Familien. Nachmittags kann man das Lachen der Kinder hören, die auf dem Wasserspielplatz herumtoben, während die Jugendlichen sich in der kleinen Ladenpassage treffen. Dort kaufen sie steuerfrei die neueste Mode, die aktuellste Musik und die gefragtesten Filme und Computerspiele, während ihre Mütter sich im Feinkostmarkt daneben mit allen notwendigen Lebensmitteln eindecken, sofern man sich zum Essen nicht in eines der Edelrestaurants begibt, die rund um die Uhr geöffnet haben.
    Am Rande dieses kleinen Paradieses, das den treffenden Namen Eldorado trägt, liegt hinter Hecken verborgen ein kleineres Gebäude, dessen Bewohner sich nur selten außerhalb ihres Geländes sehen lassen. Es gehört, so wird gemunkelt, dem Geheimdienst DIS , der es als sogenanntes sicheres Haus verwendet.
    Die gegenwärtige Bewohnerin des Hauses ist eine etwa sechzigjährige Frau mit langem grauem Haar. Sie versteckt sich nicht, wie noch
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