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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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hergebeten haben«, erwiderte er.
    Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. Er ließ es geschehen. Sie erforschte seine warmen Züge. Er hatte ein freundliches Gesicht – das konnte sie fühlen.
    Danach ging er hinauf in sein Zimmer, doch Alma blieb in der Diele zurück. Sie wollte nicht schlafen gehen. Nachdem seine Zimmertür ins Schloss gefallen war, griff sie nach ihrem Stock und ihrem Schultertuch und trat wieder ins Freie. Es war dunkel, doch das spielte für Alma keine Rolle mehr; sie sah ja auch bei Tag nicht mehr viel, und ihre Umgebung war ihr durch Tasten vertraut. Mühelos fand sie den Hintereingang des Hortus – den privaten Zugang, den die van Devenders seit drei Jahrhunderten nutzten – und betrat den Garten.
    Sie hatte vorgehabt, in die Mooshöhle zurückzukehren und dort eine Zeitlang über alles nachzudenken, doch bald schon wurde sie kurzatmig und lehnte sich an den nächstbesten Baum, um ein wenig zu verschnaufen. Liebe Güte, sie war wahrhaftig alt! Wie schnell das geschehen war! Sie war dankbar für den Baum, an dem sie lehnte. Sie war dankbar für den ganzen botanischen Garten in all seiner dunklen Schönheit. Sie war dankbar, einen ruhigen Ort zu haben, an dem sie sich erholen konnte. Sie musste an das denken, was die arme kleine verrückte Retta Snow so oft gesagt hatte: »Dem Himmel sei Dank, dass wir einen Boden haben! Denn worauf würden wir sonst sitzen?« Alma war ein wenig schwindelig. Welch ein Abend das gewesen war!
    Wir waren zu dritt , hatte er gesagt.
    In der Tat, sie waren zu dritt gewesen, und nun waren sie nur noch zu zweit. Bald würde nur noch einer übrig sein. Und schließlich würde auch Wallace verschwinden. Doch einstweilen wusste er von ihr. Jemand wusste von ihr. Alma drückte das Gesicht an den Baum und staunte – darüber, wie schnell alles geschah und wie alles ineinandergriff.
    Doch man kann nicht ewig in atemlosem Staunen verharren, und so ertappte sich Alma nach einiger Zeit dabei, dass sie sich fragte, was für ein Baum das eigentlich war, an dem sie lehnte. Sie kannte jeden einzelnen Baum im Hortus, doch sie war sich nicht ganz sicher, wo sie sich befand, und konnte ihn folglich nicht identifizieren. Er roch vertraut. Sie strich über die Rinde, und dann wusste sie es: Natürlich, es war die Königsnuss, die einzige ihrer Art in ganz Amsterdam. Juglandaceae . Aus der Familie der Walnussgewächse. Dieses ganz spezielle Exemplar war vor weit über hundert Jahren aus Amerika hierhergekommen, vermutlich aus dem westlichen Pennsylvania. Aufgrund der langen Pfahlwurzel nur sehr schwer zu verpflanzen. Er musste als junger Setzling hergekommen sein. Gedieh vor allem in den Niederungen. Schätzte lehm- und schlickhaltigen Boden, wurde von Wachteln und Füchsen aufgesucht, war winterfest und anfällig für Fäule. Er war alt. Sie war alt.
    Die Hinweise häuften sich, von allen Seiten strömten sie auf Alma ein und ließen nur einen endgültigen, ernsthaften Schluss zu: Bald, sehr bald schon, würde ihre Zeit kommen. Sie wusste, dass es so war. Wenn nicht in dieser, dann doch in einer anderen, nicht mehr fernen Nacht. In der Theorie fürchtete sie den Tod nicht. Wenn sie überhaupt etwas empfand, dann nichts als Respekt und Ehrfurcht vor dem Genie des Todes, der die Welt mehr geprägt hatte als jede andere Macht. Dessen ungeachtet hegte sie nicht den Wunsch, just in diesem Moment zu sterben. Sie wollte immer noch wissen, was als Nächstes geschehen würde, so wie bereits ihr ganzes Leben lang. Es ging darum, sich dem Versinken so lange wie möglich zu widersetzen.
    Sie umarmte den großen Baum, als wäre er ein Pferd. Sie drückte die Wange an seine stumme, lebendige Flanke.
    Und sie sagte: »Da sind wir ganz schön weit weg von zu Hause, du und ich, was?«
    Im Dunkel des Gartens, inmitten der stillen, nächtlichen Stadt, gab der Baum keine Antwort.
    Doch immerhin hielt er sie noch eine kleine Weile aufrecht.

Danksagung
    Die Autorin dankt für Unterstützung und Inspiration: den Königlichen Botanischen Gärten von Kew, dem Botanischen Garten New York, dem Hortus Botanicus in Amsterdam, Bartram’s Garden in Philadelphia, den Woodlands, dem Liberty Hall Museum sowie dem Esalen-Institut; außerdem Margaret Cordi, Anne Connell, Shea Hembrey, Rayya Elias, Mary Bly, Linda Shankara Barrera, Tony Freund, Barbara Paca, Joel Fry, Marie Long, Stephen Sinon, Mia D’Avanza, Courtney Allen, Adam Skolnick, Celeste Brash, Roy Withers, Linda Tumarae, Cree LeFavour,
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