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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Schach spielen kann, Miss Whittaker. Wir brauchen keinen Geist, der Religionen begründen und über unsere Ursprünge debattieren kann. Wir brauchen keinen Geist, der uns veranlasst, in der Oper Tränen zu vergießen. Und wir brauchen im Übrigen auch keine Oper – und auch keine Wissenschaft und keine Kunst. Wir brauchen weder Ethik noch Moral, Würde oder Opferbereitschaft. Wir brauchen weder Zuneigung noch Liebe – erst recht nicht in dem Maße, in dem wir beides empfinden. Wenn überhaupt, dann ist unsere Empfindsamkeit vor allem eine Belastung, denn sie kann uns dazu treiben, Leid zu empfinden. Ich glaube also nicht, dass wir unseren Geist dem Prozess der natürlichen Selektion verdanken – wenngleich ich sehr wohl glaube, dass wir ihr unseren Körper und die meisten unserer Fähigkeiten schulden. Wissen Sie, was ich glaube, woher wir unseren ungeheuren Geist haben?«
    »Allerdings, Mr Wallace«, sagte Alma leise. »Bedenken Sie, ich habe einen guten Teil Ihrer Werke gelesen.«
    »Ich werde Ihnen sagen, weshalb wir diesen ungeheuren Geist und diese ungeheure Seele besitzen, Miss Whittaker«, fuhr Wallace fort, als hätte sie nichts gesagt. »Wir besitzen sie, weil im Universum eine höhere Intelligenz am Werke ist, die einen Austausch mit uns wünscht. Diese höhere Intelligenz möchte erkannt werden. Sie ruft nach uns. Sie führt uns an ihr Mysterium heran, und sie hat uns auch diesen beachtlichen Geist geschenkt, damit wir imstande sind, uns ihr zu nähern. Sie wünscht, dass wir sie finden. Mehr als alles andere wünscht sie sich die Vereinigung mit uns.«
    »Ich weiß, dass Sie das glauben.« Alma tätschelte ihm erneut die Hand. »Und ich halte das für eine höchst originelle Überlegung, Mr Wallace.«
    »Glauben Sie denn, ich habe recht?«
    »Das vermag ich nicht zu beurteilen«, sagte Alma, »doch es ist eine wunderbare Theorie. Sie kommt einer Antwort auf meine Frage so nahe wie nur irgend möglich. Und doch lösen Sie das Rätsel nur mit einem weiteren Rätsel, und ich weiß nicht recht, ob ich das noch als wissenschaftlich bezeichnen kann – wenn auch vielleicht als poetisch. Unglücklicherweise strebe ich, nicht anders als Ihr Freund Mr Darwin, weiterhin nach solideren Antworten aus dem Feld der empirischen Wissenschaft. Das ist eben meine Natur. Mr Lyell allerdings hätte Ihnen zugestimmt. Er vertrat die Ansicht, dass nur ein göttliches Wesen den menschlichen Geist geschaffen haben kann. Und mein Mann wäre von Ihrer Idee begeistert gewesen. Ambrose glaubte an derlei Dinge. Er sehnte sich nach genau der Vereinigung mit einer höheren Intelligenz, von der Sie sprechen. Er starb auf der Suche nach dieser Vereinigung.«
    Sie schwiegen wieder.
    Nach einiger Zeit lächelte Alma. »Ich habe mich immer gefragt, was Mr Darwin eigentlich von Ihrem Konzept gehalten hat – dass unser Geist von den Gesetzen der Evolution ausgeschlossen bleibt und das Universum von einer höheren Intelligenz beherrscht wird.«
    Auch Wallace lächelte. »Er war nicht damit einverstanden.«
    »Das hätte mich auch gewundert!«
    »Oh, Miss Whittaker, er war alles andere als einverstanden. Jedes Mal, wenn ich darauf zu sprechen kam, war er äußerst verstimmt. Er konnte einfach nicht glauben, dass ich – nach all den Kämpfen, die wir gemeinsam ausgefochten hatten – tatsächlich wieder Gott ins Spiel brachte!«
    »Und was haben Sie erwidert?«
    »Ich habe versucht, ihm begreiflich zu machen, dass ich das Wort Gott nie verwendet habe. Dieses Wort kam von ihm. Ich habe nur gesagt, dass im Universum eine höhere Intelligenz am Werke ist und dass sie nach Vereinigung mit uns strebt. Ich glaube an die Geisterwelt, Miss Whittaker, aber ich würde niemals in einer wissenschaftlichen Debatte mit dem Wort Gott daherkommen. Schließlich bin ich strenggläubiger Atheist.«
    »Aber sicher, mein Lieber«, sagte Alma und tätschelte ihm noch einmal die Hand. Sie genoss es so sehr, ihm die Hand zu tätscheln. Sie genoss jede Sekunde dieses Austauschs.
    »Halten Sie mich für naiv?«, fragte Wallace.
    »Ich halte Sie für fabelhaft«, berichtigte ihn Alma. »Ich finde, Sie sind der fabelhafteste Mensch, den ich kenne und der noch am Leben ist. Sie machen mich froh, dass ich noch hier bin und jemandem wie Ihnen begegnen darf.«
    »Nun, Miss Whittaker, Sie sind keineswegs allein auf dieser Welt, auch wenn Sie bereits so viele überlebt haben. Ich bin überzeugt, dass wir von einem ganzen Heer aus unsichtbaren Freunden und geliebten Menschen
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