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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Wallace war ausgesucht höflich und zuvorkommend – vor allem den Jüngeren gegenüber. Er lauschte ihnen bereitwillig, wenn sie mit ihren eigenen Forschungen prahlten und ihn um Rat angingen. Und selbstverständlich wollten sie ihm auch Amsterdam präsentieren, und so gingen etliche Tage mit unsinnigen Besichtigungen und Bürgerstolz dahin.
    Dann folgte der Vortrag im Palmenhaus und im Anschluss die langatmigen Fragen von Gelehrten, Reportern und Würdenträgern sowie das übliche, öde Galadiner. Wallace sprach gut, sowohl beim Vortrag als auch beim Diner. Es gelang ihm, jeden Konflikt zu umschiffen, und er beantwortete all die weitschweifigen, uninformierten Fragen mit einer Engelsgeduld. Seine Frau musste ihn wohl ermahnt haben, sich bestens zu betragen. Gut gemacht, Annie , dachte Alma.
    Sie wartete. Sie war keine Frau, die das Warten fürchtete.
    Schließlich verflog der Reiz des Neuen, der Wallace umgab, und die lärmende Menge lichtete sich. Die jungen Leute wandten sich neuen Sensationen zu, und Alma konnte mehrere Frühstücke in Folge an der Seite ihres Gastes verbringen. Und weil sie ihn besser kannte als jeder andere, wusste sie auch, dass er nicht ewig über die natürliche Selektion sprechen wollte. Stattdessen verwickelte sie ihn in Gespräche über Themen, von denen sie wusste, dass sie ihm weitaus mehr am Herzen lagen: das Tarnverhalten der Schmetterlinge, die Artenvielfalt der Käfer, das Gedankenlesen, den Vegetarismus, die Übel ererbten Reichtums, seine Pläne zur Abschaffung der Börse, seine Pläne zur Beendigung sämtlicher Kriege, seine Unterstützung für die Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens und Irlands, seinen Vorschlag, die britische Regierung möge die Welt für die Grausamkeiten des Empires um Verzeihung bitten, seinen Traum, ein verkleinertes Modell des Erdballs (vierhundert Fuß im Durchmesser) zu bauen, das man zu Bildungszwecken in einem riesigen Ballon umrunden könnte … solcherlei Themen.
    Kurzum, er war gelöst in Almas Gesellschaft und sie in seiner. Wenn er sich ganz und gar frei fühlte, war er ein so reizender Gesprächspartner, wie sie stets vermutet hatte, und nur allzu bereit, über eine Vielzahl breitgefächerter Themen und Leidenschaften zu parlieren. Alma hatte sich seit Jahren nicht mehr so gut unterhalten. Freundlich und einnehmend, wie er war, erkundigte er sich auch nach ihrem Leben und sprach nicht ausschließlich von sich. So kam es, dass Alma Wallace von ihrer Kindheit auf White Acre berichtete, von den Pflanzenproben, die sie als Fünfjährige, in Begleitung eines Ponys mit seidenem Zaumzeug, im Wald gesammelt hatte, von ihren exzentrischen Eltern und den anspruchsvollen Konversationen an der abendlichen Tafel, von ihrem Vater, der von Meerjungfrauen und Kapitän Cook erzählte, von der großartigen Bibliothek auf dem Anwesen, von ihrem langjährigen Studium der Mooskolonien Philadelphias, von ihrer Schwester, der tapferen Abolitionistin, und von ihren Abenteuern auf Tahiti. Zu ihrem eigenen Erstaunen – obwohl sie seit Jahrzehnten kein Wort über ihn verloren hatte – erzählte sie ihm sogar von ihrem bemerkenswerten Ehemann, der so wunderschöne Orchideen zeichnen konnte wie sonst niemand auf Erden und der in der Südsee gestorben war.
    »Was für ein Leben Sie geführt haben!«, sagte Wallace.
    Als er das sagte, musste Alma den Blick abwenden. Noch nie hatte jemand so etwas zu ihr gesagt. Sie fühlte sich mit einem Mal befangen und zugleich erneut überwältigt von dem Drang, ihm mit beiden Händen ins Gesicht zu fassen und seine Züge zu ertasten – so, wie sie inzwischen das Moos ertastete und sich mit den Fingern einprägte, was sie nicht länger mit Blicken bewundern konnte.
    •
    Sie wusste nicht, wann sie es ihm sagen oder was genau sie ihm sagen würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie es ihm überhaupt sagen würde. Als die letzten Tage seines Aufenthalts anbrachen, schien es ihr fast, als würde sie es ihm tatsächlich nicht erzählen. War es nicht schon genug, diesen Mann kennengelernt und die Schlucht überbrückt zu haben, die sie all die Jahre getrennt hatte?
    Doch dann, an seinem letzten Nachmittag in Amsterdam, bat Wallace Alma darum, ihm ihre Mooshöhle persönlich zu zeigen, und sie führte ihn dorthin. Er war geduldig bereit, die Gärten so quälend langsam zu durchqueren, wie es ihr möglich war.
    »Verzeihen Sie, dass ich so schlecht zu Fuß bin«, sagte Alma. »Mein Vater hat mich früher immer als Dromedar bezeichnet, doch
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