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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Säugling.
    Alma brachte es zu Wallace hinüber, dann machte sie es sich auf dem Diwan bequem, während er las. Er las recht lange. Sie musste wohl eingenickt sein – wie es inzwischen häufiger geschah und stets in den abwegigsten Momenten –, denn als sie einige Zeit später seine Stimme hörte, schrak sie hoch.
    »Wann, sagten Sie, haben Sie das geschrieben, Miss Whittaker?«, fragte er.
    Alma rieb sich die Augen. »Das Datum steht auf der Rückseite«, sagte sie. »Ich habe später noch einiges hinzugefügt, neue Gedanken und dergleichen, und diese Ergänzungen sind hier irgendwo im Zimmer aufbewahrt. Doch was Sie da in Händen halten, ist das Original, das ich im Jahre 1854 verfasst habe.«
    Wallace dachte nach.
    »Dann war Darwin trotzdem der Erste«, sagte er schließlich.
    »Aber ja, unbedingt«, sagte Alma. »Mr Darwin war bei weitem der Erste und der Gründlichste obendrein. Das stand für mich immer völlig außer Frage. Bitte glauben Sie mir, Mr Wallace, ich erhebe keinerlei Anspruch …«
    »Aber Sie sind vor mir auf die Idee gekommen«, unterbrach er sie. »Darwin war schneller als wir beide, das steht fest, doch Sie sind vier Jahre vor mir auf die Idee gekommen.«
    »Nun ja …« Alma zögerte. »Darauf wollte ich nun wirklich nicht hinaus.«
    »Aber Miss Whittaker«, sagte Wallace, und seine Stimme klang hell und erregt, während die Erkenntnis heraufdämmerte. »Das heißt doch, wir waren zu dritt!«
    Da stockte Alma für einen Moment der Atem.
    Mit einem Schlag fühlte sie sich nach White Acre zurückversetzt, an einen schönen Sommertag des Jahres 1819 – jenen Tag, an dem sie und Prudence zum ersten Mal Retta Snow begegnet waren. Sie waren alle noch jung, der Himmel war blau, und noch hatte die Liebe keine tiefen Wunden geschlagen. Retta hatte mit ihren strahlenden, lebhaften Augen zu Alma aufgeblickt und gerufen: »Dann sind wir jetzt zu dritt! Welch ein Glück!«
    Wie ging noch gleich das Lied, das Retta für sie gedichtet hatte?
    Fiedel, Gabel, Löffel, das sind genau wir drei,
    wir tanzen mit dem Monde, ist uns doch einerlei,
    willst einen Kuss uns stehlen,
    so lass dir eins empfehlen:
    stiehl ihn dir lieber bald!
    Weil Alma nicht gleich antwortete, kam Wallace zu ihr herüber und setzte sich neben sie.
    »Miss Whittaker«, sagte er ein wenig leiser. »Begreifen Sie? Wir waren zu dritt.«
    »Ja, Mr Wallace. Es hat ganz den Anschein.«
    »Das ist ein höchst bemerkenswerter Fall von Gleichzeitigkeit.«
    »Das war auch immer meine Ansicht«, sagte Alma.
    Wallace hielt den Blick starr auf die Wand gerichtet und blieb von neuem still.
    Schließlich fragte er: »Wer weiß noch davon? Wer kann für Sie bürgen?«
    »Nur mein Onkel Dees.«
    »Und wo ist Ihr Onkel Dees?«
    »Der ist tot«, sagte Alma und konnte dabei ein Lachen nicht unterdrücken. Dees hätte gewollt, dass sie es genau so formulierte. Ach, wie sie den aufrechten, alten Holländer vermisste! Ach, wie er sich an dieser Situation gefreut hätte!
    »Aber warum haben Sie denn nicht veröffentlicht?«, fragte Wallace.
    »Weil es nicht gut genug war.«
    »Unsinn! Es ist doch alles da. Die ganze Theorie ist da. Und zwar um einiges ausgefeilter als in diesem lächerlichen Brief, den ich Darwin im Jahr achtundfünfzig im Fieberwahn geschrieben habe. Wir sollten das jetzt veröffentlichen.«
    »Nein«, sagte Alma. »Es ist nicht notwendig, es zu veröffentlichen. Danach habe ich wahrhaftig kein Bedürfnis. Mir genügt, was Sie eben gesagt haben: dass wir zu dritt waren. Das genügt mir vollkommen. Sie haben eine alte Frau sehr glücklich gemacht.«
    »Aber wir könnten es doch veröffentlichen«, beharrte er. »Ich könnte die Präsentation für Sie übernehmen …«
    Alma legte eine Hand auf seine. »Nein«, sagte sie entschieden. »Ich bitte Sie, mir zu vertrauen. Es ist nicht notwendig.«
    Einen Augenblick saßen sie schweigend nebeneinander.
    Schließlich brach Wallace das Schweigen wieder. »Darf ich dann wenigstens fragen, warum Sie die Abhandlung 1854 nicht für wert befunden haben, veröffentlicht zu werden?«
    »Ich habe damals nicht veröffentlicht, weil ich der Ansicht war, dass an der Theorie etwas fehlt. Und ich muss Ihnen sagen, Mr Wallace – ich bin immer noch der Ansicht, dass etwas daran fehlt.«
    »Und das wäre?«
    »Eine überzeugende evolutionäre Erklärung für die Nächstenliebe und Opferbereitschaft beim Menschen«, sagte Alma.
    Sie überlegte, ob sie das wohl noch weiter ausführen musste. Sie war sich nicht
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