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Jan Weiler Antonio im Wunderland

Jan Weiler Antonio im Wunderland

Titel: Jan Weiler Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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EINS
    Hollywoodschaukeln gehören zu jenen Dingen, die nicht in Würde altern können. In Würde alt zu werden bedeutet, auch im Herbst des Lebens begehrenswert zu erscheinen, den Menschen immer noch ein Funkeln in die Augen zu treiben, jederzeit Gesprächsstoff werden zu können. Wie Jean-Paul Belmondo. Der ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Würde altern kann, selbst wenn man wie ein ungemachtes Bett aussieht. Mit einer Hollywoodschaukel hat Jean-Paul Belmondo gemein, dass der Zenit ihrer Popularität etwa gleich lang zurückliegt.
    Der Unterschied zwischen einer Hollywoodschaukel und Jean-Paul Belmondo besteht darin, dass die Hollywoodschaukel die meiste Zeit draußen herumsteht und rostet, während Jean-Paul Belmondo vermutlich reingeht, wenn es anfangt zu regnen. Belmondo rostet also nicht, und seine Hemden bekommen keine Stockflecken. Es ist anzunehmen, dass sich Ehepaare auf der Straße umdrehen, wenn Belmondo an ihnen vorbeiläuft und der Mann sagt: «Guck mal, das war doch der Belmondo!» Die Frau sagt: «Und er riecht so gut!» Wenn dieselben Leute kurz darauf an einer Hollywoodschaukel vorbeigehen, sagen sie – gar nichts.
    Bereits zu ihren Glanzzeiten war die Hollywoodschaukel im Gegensatz zu Jean-Paul Belmondo eine Enttäuschung, eigentlich ein großes Missverständnis. Sie kostete ein Schwei-negeld, quietschte, hatte hässliche Bezüge, war unbequem, ging kaputt und war schnell wieder out. Heutzutage sieht man Hollywoodschaukeln – schon der Name bürgt für Illusion, wenn nicht für Schwindel – nur noch in Nostalgieshows im Fernsehen. Und im Garten meines Schwiegervaters.
    Der hockt bei schönem Wetter am liebsten auf seiner Hollywoodschaukel. So auch jetzt. Seine kurzen Beinchen erreichen den Boden nicht ganz. Dort, wo er sitzt, immer an derselben Stelle, hat die Schaukel eine leichte Schlagseite. Daneben steht ein kleiner Tisch mit Aschenbecher, Zigaretten und einem Schälchen Macadamia-Nüsse, die er fast mehr liebt als seine Frau. Da sitzt er also und schaukelt sanft vor und zurück. Sein Blick geht ins Leere. Antonio Marcipane. Gastarbeiter der ersten Stunde. Jeans, Lederschuhe, Flanellhemd. Goldzähne, dunkelbraune Haare, auf der Brust auch graue. Antonio, der Vater meiner Frau, Süditaliener und in letzter Zeit manchmal müde.
    Die Schaukel steht hinter seinem Reiheneckhaus aus rot-braunen Klinkersteinen. Seit über dreißig Jahren wohnt er darin, verlässt es zwischen Montag und Freitag jeden Morgen um zehn nach sieben mit einer Aktentasche unter dem Arm.
    Darin befindet sich sein Brot mit Bauarbeitermarmelade 1 , Milchkaffee, ein Notizbuch für besondere Vorkommnisse und Lottoforschung, ein Jerry-Cotton-Heft und seine Lesebrille nebst Futteral. Am Boden kleben Salmiakpastillen, die er dort irgendwann in den vergangenen 37 Jahren vergessen hat.
    Heute ist er zum letzten Mal zur Arbeit gefahren, denn heute geht Antonio Marcipane nach 37 Jahren im Stahlwerk in Rente. 37 Jahre. Das bedeutet über 16000-mal Spindtüre auf und wieder zu, einmal am Morgen und einmal am Abend. Das sind mehr als 8000 Butterbrote, die ihm Ursula geschmiert hat, Hunderte von Kollegen, die er kommen und wieder gehen 1 Rheinischer Arbeiterslang für «Zwiebelmettwurst»
    10
    sah. 96 000 Kilometer Fahrtweg zur Arbeit und zurück. Verrückt. Und was bleibt am Ende? Ein kleiner Mann mit einem Helm auf dem Kopf, der mit baumelnden Beinen auf seiner Hollywoodschaukel sitzt, an einem Vorhängeschloss herum-spielt und darüber nachdenkt, was er morgen früh mit sich anfangen soll.
    Bisher war es ein aufregender Tag. Nach dem Frühstück fuhren wir gemeinsam mit ihm in die Firma, wo es einen kleinen Festakt geben sollte, oben beim Vorstand. Die Vor-standsetage von Antonios Stahlwerk ist ein Ort, den kein Arbeiter jemals zu Gesicht bekommt, normalerweise jedenfalls.
    In diesem Fall wurde aber eine Ausnahme gemacht, und das hat Gründe, von denen Antonio nichts weiß. Und wenn er sie wüsste, wären sie ihm egal.
    In letzter Zeit hatte das Unternehmen keine besonders gute Presse, man schrieb von Rüstungsgeschäften mit politisch fragwürdigen Partnern. Der Vorstand entschloss sich daher, die Pressearbeit in die Hände einer PR-Agentur zu geben, die nun ständig nach positiven Themen sucht, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses Stahlwerk eigentlich keine Waffen, sondern Waffeln herstellt. Und überhaupt: Vor allen Dingen ginge es der Firma in diesen schweren Zeiten um den Erhalt der Arbeitsplätze, und
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