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Jan Weiler Antonio im Wunderland

Jan Weiler Antonio im Wunderland

Titel: Jan Weiler Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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das sei ein Ziel, an dem niemand herummeckern könne.
    Aber die Reporter schrieben und sendeten davon nichts, sie standen lieber an den Werkstoren und stellten Schichtarbei-tern Fragen wie zum Beispiel diese: «Sie haben gerade Kriegs-geräte für einen Folterstaat gebaut. Wie fühlen Sie sich?» (Antwort: «Nix verstehen, gut Arbeit hier, geh Spielothek jetz'.
    Tschuss.»)
    Es mussten dringend schöne, menschelnde Geschichten her. Die Tatsache, dass da einer aus Halle zwei in Rente ging, 11
    der 37 Jahre da war, wäre in so einer Situation nichts Besonderes, aber es handelte sich um einen Ausländer. Da zuckte den PR-Beratern der europäische Gedanke durch den Kopf. Hurra, einer von diesen alten Gastarbeitern, diesen herrlich schrulligen Charakterköpfen! Ein Symbol für Frieden und Zusammenarbeit unter den Völkern! Was für ein Geschenk!
    «Da machen wir doch einen Presse-Event», sagte Giesecke von der gleichnamigen PR-Agentur und hielt dann inne. «Das ist aber hoffentlich kein Türke, oder?»
    «Nein, ein Italiener», antwortete Polz aus der Personalabteilung.
    Die beiden einigten sich darauf, die Unterlagen noch einmal durchzusehen und nach einem womöglich noch geeigneteren Kandidaten zu suchen, denn italienische Gastarbeiter waren zwar echt super, aber noch besser wäre vielleicht ein Pole oder ein Russe, da sei die thematische Fallhöhe größer, wie Giesecke bemerkte, ohne dass ihn der Blitz traf. Es gab aber nur einen Rumänen und der war schon im vorigen Herbst in Rente gegangen, genauer gesagt in Frührente. Der Mann sei ein so genannter Minderleister gewesen, sagte Polz.
    «Und dieser Italiener?», fragte Giesecke.
    «Marcipane, Antonio. Unauffällig», antwortete Polz und schlug Antonios angegammelte Akte auf. «War in der letzten Zeit viel krank und in den vergangenen drei Jahren neunmal beim Werksarzt. Nichts Besonderes in dem Alter.»
    «Betriebsrat?»
    «Ja, von 1974 bis 1981. Aber das war vor meiner Zeit. Sonst sehe ich hier nichts. Oder doch. 1988 ist er mit einwöchiger Verspätung aus dem Urlaub gekommen und hat behauptet, er hätte sich bei der Heimreise um 13 000 Kilometer verfahren.»
    «Und das haben Sie ihm geglaubt?»
    «Wie gesagt, das war vor meiner Zeit.»
    12
    Man bestellte Antonio also in die Personalabteilung und schlug ihm vor, am Tage seiner Verrentung einen kleinen Festakt zu begehen, an dem sicher auch Herr Doktor Köther aus dem Vorstand teilnehmen würde. Man wisse, sagte der Personalsachbearbeiter Polz und zwinkerte dabei mit einem Auge, dass Herr Doktor Köther sich auch schon eine Rede überlege. Antonio war außer sich. Eine Rede, für ihn allein.
    Er rief mich auf dem Handy an, als ich gerade in einem Supermarkt stand und herauszufinden versuchte, was der Unterschied zwischen Brie und Camembert 1 ist.
    «Weißte du, was dein alte Schwiegevater is?»
    «Mein alter Schwiegervater ist ein imbroglione », rief ich ins Telefon. Ein imbroglione ist ein Gauner, das ist mein Kose-wort für ihn.
    «Nee, bini gar nickt. Bini der neue Fernsehstar.»
    «Was?»
    «I kommin Fernsehn», brüllte er. «In die Tageschau kommi. Die macke ein ganzer Film nur übermi.»
    Ich täuschte einen Verbindungsabbruch vor, indem ich in mein Handy pustete und dann auflegte. Dann wählte ich seine Nummer. Das mache ich immer so, wenn ich seine Frau sprechen will. Wenn Ursula mir etwas erklärt, verstehe ich es einfach besser, denn sie ist Deutsche. Ich kann ganz sicher sein, dass ich sie am Telefon habe, denn er geht nie selber dran, wenn es klingelt, nicht einmal, wenn er das Telefon ge-1 Nach Auskunft von Frau M., die große Teile ihres Lebens in einem fensterlosen Supermarkt in Wolfratshau sen verbringt, ohne dort jemals den bayerischen Ministerpräsidenten beim Einkaufen zu sehen, ist der Unterschied der: Brie sei müder und weicher als Camembert. Auf meinen Hinweis, dass auf dem Camembert stehe, dieser sei «mild und cremig», entgegnete sie: «Genau. Und der Brie ist noch milder und noch cremiger.»
    13
    rade zufällig in der Hand hat. Ich glaube, das ist irgend so ein Chauvi-Ding.
    Sie hob nach dem siebenten Klingeln ab, wahrscheinlich war er vorher mit dem Hörer in der Hand durchs Haus gelaufen und hatte gerufen: «Uuuuuuursulaa! De Teeelefoon!»
    Ich fragte sie, was das für eine Geschichte sei, und sie war für ihre Verhältnisse ziemlich außer sich. Genau verstanden habe sie es auch nicht, aber die Firma wolle seinetwegen einen Festakt machen. Mit Presse und so. Dann nahm er ihr den
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