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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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Prolog
     
    Über Jahre hinweg konnte ich nicht an diesen Tag zurückdenken, ohne das Brennen einer glühenden Reue in mir zu spüren. Ich versuchte, die Erinnerung tief in die finsteren Regionen meines Gedächtnisses zu verdrängen, aber ab und zu wurde sie wieder hervorgerufen – vom Aushang eines Wirtshauses, von einer Zahlenreihe, einem gut gekleideten Herrn – und dann zuckte ich zusammen, wenn die Erinnerung auftauchte und wieder davonhuschte wie ein Silberfischchen unter der Tür …
    Der Tag begann großartig. Meine Mutter, mein Vater und ich, damals zwölf Jahre alt, fuhren zusammen nach Chedworth und verbrachten einen seltenen Nachmittag in familiärer Harmonie miteinander. Es gab viel Schönes zu sehen und wir besichtigten die römischen Ruinen, wo meine Mutter zufällig eine alte Bekannte traf. Für mich war es ein wunderschöner Ausflug und ich weiß noch, dass ich so glücklich war wie nie zuvor – denn auch meine Mutter und mein Vater schienen glücklich miteinander zu sein.
    Die Stimmung auf der Heimreise war angespannt, aber ich führte das auf die Müdigkeit zurück und schlief bald in dem Einspänner ein, meinen Kopf an die Schulter meiner Mutter gelehnt.
    Als wir zu Hause ankamen, war ich immer noch so guter Dinge, dass ich meinem Vater nach seiner düsteren Ankündigung, er würde noch in die Krone und Krähe gehen, anbot, ihn zu begleiten, obwohl ich das monatelang nicht mehr gemacht hatte.
    »Wie du willst«, murmelte er und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Ich konnte seinen plötzlichen Stimmungsumschwung nicht verstehen, aber wann hatte ich das je gekonnt?
    Ich war mit ihm zur Krone und Krähe gegangen, seit ich ein drei- oder vierjähriges Kind gewesen war. Er hatte mich immer auf die hohe Theke gesetzt und dort hatte ich bis tausend oder noch weiter gezählt. Wenn man es einmal bis hundert geschafft hat, sind dann zwei-, fünf- oder neunhundert nicht ein Kinderspiel? Im Alter von sechs Jahren rechnete ich zum Vergnügen und Erstaunen der anderen Gäste allerlei Aufgaben aus. Mein Vater nannte mir zwei oder drei Zahlen und wie auf einer Glastafel sah ich ihre Summe vor mir.
    »Was ist siebenundvierzig und fünfundfünzig, Olivia?«
    Sofort hatte ich die Zahlen und ihre Summe vor Augen. »Eins null zwei, Papa.«
    »Einhundertzwei. Das stimmt. Du bist mein kluges Mädchen.«
    Als ich älter wurde, wurden die Aufgaben schwieriger und ich begann mich zu fragen, ob die müden Reisenden und angetrunkenen alten Männer überhaupt merkten, ob ich richtig gerechnet hatte. Aber mein Vater merkte es, davon war ich überzeugt, denn er konnte fast genauso flink mit Zahlen umgehen wie ich.
    Er nahm mich auch zu den Rennbahnen mit – einmal sogar zur Pferderennbahn von Bibury –, wo er seine Wetten platzierte. Etliche Männer von Lower Coberly bis hinüber nach Foxcote vertrauten ihm ihr Geld dafür an. Ich saß neben ihm, sein schwarzes Buch in meinen kleinen Händen, notierte die Quoten, die Gewinne und Verluste, und zog im Kopf den Anteil meines Vaters ab, bevor ich die Auszahlungssummen niederschrieb. Die Aufregung der Rennen, der Geruch nach Fleischpastete und gewürztem Apfelmost, die Menschenmenge, das Geschrei bei Siegen und Niederlagen und die ersehnte Nähe von Vater und Tochter faszinierten mich.
    Meiner Mutter war es immer ein Dorn im Auge gewesen, wenn ich mit meinem Vater zu den Rennen und ins Wirtshaus ging, aber ich wollte ihm das nicht verweigern, denn ich sehnte mich nach seiner Anerkennung. Als ich jedoch anfing, Miss Cresswells Mädchenschule zu besuchen, begleitete ich ihn nicht mehr so oft.
    An jenem Tag in der Krone und Krähe war ich mit meinen zwölf Jahren zu alt, um oben auf der Theke zu sitzen. Stattdessen saß ich neben meinem Vater in der Kaminecke vor der großen Feuerstelle und trank meine Ingwerlimonade, während er ein Bier nach dem anderen hinunterkippte. Die Stammgäste schienen seine schlechte Laune zu spüren und sprachen uns nicht an.
    Dann kamen sie herein – ein gut gekleideter Herr und sein Sohn, der den blauen Mantel und gebänderten Strohhut eines Schuljungen trug. Der Mann war offensichtlich ein Gentleman aus der oberen Gesellschaftsschicht, vielleicht sogar ein Adliger, und zur Verteidigung unseres bescheidenen Hauses nahmen wir alle eine aufrechte Haltung an.
    Der Junge, der vom Alter her vielleicht ein oder zwei Jahre Abstand zu mir hatte, warf mir einen Blick zu. Selbstverständlich nahmen wir einander wahr, schließlich waren wir die einzigen
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